Herzlichen Dank an alle für die Teilnahme an diesem sozialen
Experiment!
Vorbildlich haben Sie reagiert. Moralisch einwandfrei. Ein bisschen
aggressiv und verbissen vielleicht, aber vorwerfen kann man Ihnen
nichts. Außer vielleicht einen gewissen Hang zur Aufmerksamkeit und
Beliebtheit. Aber auch das ist ja ein legitimes menschliches
Bedürfnis.
Nun, da dieses
erst einmal bis zu einem gewissen Maße befriedigt wurde, könnten
wir uns über das Kunstwerk Kollegah,
Farid Bang
und den Song
„0815“
von
den
Künstlern
Felix
Blume und Farid Hamed El Abdellaoui
austauschen. Vielleicht wussten Sie es nicht, aber Rap ist im Moment
die wichtigste lyrische (und
darstellerische)
Kunstform in Deutschland, und die
beiden zwei der wichtigsten
Künstler auf
diesem Gebiet. Und
vielleicht wussten Sie auch nicht was Kunst ist, und das Kunst
eigentlich nicht die Funktion erfüllt, die richtige Realität
darzustellen oder persönliche Meinungen zu verbreiten. Kunst nutzt
die Möglichkeit eines moralisch
wertrelativen
Raumes, um darin experimentell Alternativen zur üblich wahrgenommen
Realität darzustellen und somit eventuell diese Üblichkeit
nachhaltig zu verändern, zu erweitern.
Stellen wir uns vor, diesen Rahmen der moralischen Wertfreiheit gäbe
es nicht.
Wie hätte zum Beispiel
Quentin Tarantino eine Rolle wie die von
Hans
Landa
für Inglourious
Basterds entwerfen
und wie Christoph
Waltz sie spielen können?
Warum wird er dafür unumstritten gefeiert,
diese Rolle so glaubwürdig und überzeugend,
zu inkarnieren, vor
allem in der Gänsehaut erzeugenden Anfangsszene?
Beweist das nicht seinen tief verwurzelten Antisemitismus?
Wenn Sie denken, dass man das nicht mit „0815“
vergleichen kann, ist das ein ernst
zu nehmender Hinweis, dass Sie Kunst im Allgemeinen und Rap im
Speziellen nicht im gleichen Sinne verstehen wie die
Künstler selbst.
Ihnen fehlt das Bewusstsein, dass es sich hier um ein Experiment
handelt, um ein Schauspiel, eine Alternative zur Realität. Sie
verwechseln die Künstler (Felix
Blume und Farid Hamed El Abdellaoui)
mit ihrem Werk (Kollegah
und Farid Bang).
Ein Rapper schreibt eben nicht nur Texte
mit seinen eigenen politischen Botschaften, sondern er kreiert eine
Figur, eine Rolle und spielt diese auch.
Er kann Drehbuchautor, Regisseur und
Schauspieler in einem sein. Kollegah
und Farid Bang
einen Echo zu verleihen, wäre wie Hans
Landa
einen Oskar zu verleihen. Ein Irrtum.
Interessant wäre es allerdings, Felix
Blume und Farid Hamed El Abdellaoui
mit einem
Preis zu verleihen, einem
würdigeren vielleicht
als den sich einzig und
allein am kommerziellen Erfolg
orientierenden Echo.
Wenn ich lese, dass ein Lehrer diesen „Skandal“
zum Anlass genommen hat, seinen Schülern zu erklären, was
antisemitisch
heißt, und was Auschwitzinsassen
sind, frage ich mich, was man noch mehr verlangen kann. Nicht, dass
er sich dafür schämen sollte, dass seine Schüler bis dahin eine so
markante Wissenslücke aufzuweisen hatten. Aber wenigstens könnte er
(und viele andere) doch
… und … dafür danken, ihn darauf aufmerksam gemacht
zu haben.
Seit wann hat man dann nicht mehr so viel
über diesen tieftraurigen Teil unserer Geschichte gelesen und
gesprochen? Wie tief war dieses Kapitel dann schon in Vergessenheit
geraten?
Sicherlich leisten auch Campino und Freunde
politische Aufklärungsarbeit. Aber sie müssen doch nicht jeden
kritisieren, der nicht die gleiche Methode anwendet, wie sie selbst.
Auch dann nicht, und vielleicht gerade dann nicht,
wenn sie es nicht verstanden haben.
Zugegeben: Die Grenze zwischen Realität und
Fiktion ist beim Rap weit weniger offensichtlich als beim Kino oder
beim Theater. Aber das macht auch seinen Reiz aus. Und in
Wirklichkeit bedient sich der Schlager
derselben Methode. Oder
glauben Sie wirklich, dass Helene Fischer immer so unterwegs ist, wie
sie sich in ihren Liedern gibt? Ihre kreierte Rolle ist eben nur
eine, die dem modernen Heimatfilm entspräche. Oder einer gut
inszenierten Seifenoper. Rapper hingegen bieten uns Figuren mit Ecken
und Kanten an. Figuren die stören. Figuren
aus einem Thriller. Manchmal
zumindest ;-)
Felix Blume
und Farid Hamed El Abdellaoui haben
das soziale Experiment nicht aufgelöst. Als Künstler ist es nicht
ihre Aufgabe, ihr Werk für den Konsumenten
aufzudröseln und
zu rechtfertigen. Kunst hat per Definition das Recht zu provozieren
und den Konsumenten auf eine
falsche Fährte zu locken. Und wenn
Sie den
beiden auf den Leim gegangen sind,
geht es Ihnen wie Erdogan mit Jan Böhmermann und
sollten nicht dem Künstler dafür böse sein.
Nehmen Sie sich ein bisschen weniger ernst, lachen Sie über die
gelungene Farce und seien Sie eventuell sogar dankbar für den sehr
ernsthaften und wichtigen Denkanstoß, an dem wir hier teilhaben
dürfen!