Freitag, 20. März 2009

Ansätze der Humanistischen Psychologie zum Abbau von Angst in der Schule

Hausarbeit im "Erziehungswissenschaftlichen Teilstudiengang" (Psychologie) für Lehramt, Staatsexamen, Hauptstudium, Leistungsnachweis, 24 Seiten Fließtext, Universität Potsdam, Institut für Psychologie, Hauptseminar: Schulangst, SS 2008, Dr. Ingeborg Hansen

Ansätze der Humanistischen Psychologie zum Abbau von Angst in der Schule

Inhaltsverzeichnis 1
1. Einleitung 2
2. Grundlagen der Humanistischen Pychologie 3
2.1. Angst und Freiheit in der Existenzphilosophie 3
2.2. Das Menschenbild in der Humanistischen Psychologie 5
3. Eine humanistisch-psychologische Bildungs -und Erziehungstheorie 7
3.1. Persönlichkeitstypen und entsprechende Lerntechniken 8
3.2. Bedürfnisebenen auf einer Defizit-Wachstums-Skala 10
3.3. Verschiedene Bildungsansätze und ihre Auswirkungen 11
4. Projekt zur Schulangstreduktion von Peter Stritmatter 14
4.1. Grundlagen und Ziel des Projekts 14
4.2. Jacobs‘ Adaption der kognitiven Stresstheorie von Lazarus 15
4.3. Der humanistisch-psychologsiche Ansatz im Projekt 17
4.4. Wirkung von Baustein I und Kritik 20
5. Abbau von sozialer Angst durch Poesie 21
5.1. Aufbau des Projekts und Bezug zum Abbau von Schulangst 21
5.2. Wirkungsweise von Poesie beim Angstabbau 22
6. Zusammenfassung 26
Literaturverzeichnis 27



1. Einleitung

Die Humanistische Psychologie entstand Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre in den USA. Im allgemeinen Optimismus des Neuanfangs nach den desillusionierenden Ereignissen des zweiten Weltkrieges, waren auch viele aus Europa emigrierte Psychologen an ihrer Entstehung beteiligt. Die Absicht ihrer Vertreter war die Schaffung einer Alternative zur Psychoanalyse und zum Behaviourismus, weil diese als zu beschränkt für die neuen menschlichen Ideale empfunden wurden.
In der Humanistischen Psychologie vereinigen sich viele verschiedene Theorien und Methoden durch ihr grundlegendes Interesse am Menschen und ein würdevolles, erfüllendes Sein. Angst wird dabei als ein notwendiger Bestandteil unsere Existenz angesehen, von dem es sich um der Selbstenfaltung Willen innerhalb eines sozialen Gefüges zu befreien gilt. Maslow, einer der Mitbegründer der Humanistischen Psychologie meint zu „Eupsychia“, der von ihm angestrebten idealen Gemeinschaft gesunder Menschen:
"In our Eupsychia […] everyone would be psychologically healthy, everyone would be able to handle spontaneous ideas, and because there would be few personal hostilities, there would be very little fear and thus great spontaneity and creativity."
(zitiert nach Quitmann: 16)
Mit diesen sehr ideellen Ansprüchen hat die Humanistische Psychologie natürlich ein besonderes Interesse, Einfluss auf die Erziehung zu nehmen - auch auf die institutionalisierte. Forschung und Publikation zum Abbau von Angst in der Schule, einem grundlegend angestrebten Effekt der humanistisch-psychologischen Ideale, scheint nach dem anfänglichen Enthusiasmus in den 70er und 80er Jahren, als die Effekte der Humanistischen Psychologie in Europa zu wirken begannen, derzeitig zurückgegangen zu sein (Strittmatter: 9). Dennoch besteht weiterhin ein großes Interesse daran, wie man an der Entwicklung von neueren pädagogischen und didatkischen Ansätzen erkennen kann.
Ziel der hier vorliegenden Arbeit soll die Untersuchung der Frage „Inwieweit eignen sich Ansätze der Humanistischen Psychologie zum Abbau von Angst in der Schule?“ sein. Dazu soll zunächst ein Überblick über die existenzphilosophischen Begriffe Angst und Freiheit gegeben werden, die dem Menschenbild der Humanistischen Psychologie zu Grunde liegen. Danach wird eine humanistisch-psychologische Erziehungstheorie mit Persönlichkeitstypen und Bedürfnisunterteilung von Robert Mogar vorgestellt, die eine eingehende Analyse der nachfolgend betrachteten praktischen Anwendungen ermöglichen soll.
Eine dieser Anwendung war Teil des umfassenden saarländischen Projektes von Peter Strittmatter aus den 80er Jahren. Nach dem Vorstellen und Untersuchen der Lazarus-Stressmodell-Adaption von Jacobs, geht es in erster Linie um die Anwendung und Wirkung der Prinzipien der Gesprächstpsychotherapie von Carl Rogers in Baustein I des Projektes. Der Schwerpunkt liegt dort auf dem Abbau von lehrerspezifischer Angst. Eine zweite und abschließend untersuchte Anwendung ist ein Projekt zum Abbau von sozialer Angst durch Kommunikation über Poesie in einem Rehabilitationszentrum in Long Island, NY. Auch wenn sich dieser Anwendungsbereich von dem der Schule unterscheidet, sind die gewonnen Ergebnisse bei entsprechender Adaption hochrelevant für den Abbau von Schulangst.
Insgesamt soll deutlich gemacht werden, dass Schulangstreduktion mit humanistisch-psychologischen Ansätzen erstrebenswert ist, weil die Befreiung des Menschen von Angst selbst erklärtes Grundziel der Humanistischen Psychologie ist. Es geht dabei nicht um Verhaltenskonditionierung und Instrumentalisierung von bestimmten Methoden, sondern vor allem um das persönliche Interesse des Menschen an Selbstbefreiung und Wachstum.

2. Grundlagen der Humanistischen Psychologie
2.1. Angst und Freiheit in der Existenzphilosophie

Angst und Freiheit werden von der Existenzphilosophie als die zwei Grundaspekte der Geworfenheit der menschlichen Existenz betrachtet. Als „geworfen“ (Heidegger) wird dabei die Tatsache bezeichnet, dass sich der Mensch von Beginn seiner Existenz, von Geburt an mit dem Tod, dem „Nichts“ (Sartre) konfrontiert sieht. Diese Perspektive verleiht dem Leben einen absurden Charakter der Sinnlosigkeit.
Von Beginn seines Lebens an, also auch in der Schule, sieht sich der Mensch „Grenzsituationen“ (Jaspers) ausgesetzt, die ihn an den „Abgrund“ (Kierkegaard) des Nichts heranführen und ihm somit die Begrenztheit seiner Existenz bewusst machen. In solchen Situationen, in der Konfrontation mit Krankheit und Scheitern verspürt der Mensch die Grundbefindlichkeit der Angst: Zerissenheit, Verzweiflung, Ausgeliefertsein und Leere. In der Schule kann dies vor allem in Form von Leistungsangst, sozialer Angst oder der Angst vor bestimmten Personen der Fall sein.
Paradoxerweise sieht die Existenzphilosophie gerade in dieser ersten Seite der Geworfenheit, der Beschränkung und Bedrohung der Existenz des Einzelnen durch die Umwelt die Vorraussetzung für die zweite Seite der Geworfenheit, die Freiheit. Sie besteht darin, Bedrohung und Angst entweder als Teil der Existenz anzunehmen und sich darauf einzulassen oder auch nicht. Demnach ist die Angst eine unerlässliche Vorraussetzung für die Freiheit, erst durch sie entsteht die Möglichkeit zur Wahl (Quitmann: 65).
Für Heidegger, Sartre und Buber ist die Freiheit zu wählen allerdings kein „Kann“, sondern ein „Muss“, der Mensch ist „zur Freiheit verurteilt“ (Sartre). Durch die Grenze des Lebens und der damit verbundenen Angst sieht sich der Mensch zwar mit der möglichen Sinnlosigkeit seiner Existenz konfrontiert, allerdings wird die Existenz eines nicht wählenden Menschen als grundsätzlich verfehlt und sinnlos angesehen. Ein Mensch der nicht wählt, existiert nicht. Sein Dasein in der Welt macht keinen Unterschied, es kann ihm nicht gelingen sich zu manifestieren. Während also eine freie Wahl als potenzielle Fehlentscheidung die Gefahr einer verfehlten Existenz in sich birgt, wird eine Nicht-Wahl aufgrund von Angst als definitive ‚Fehlentscheidung‘ und Kern einer verfehlten Existenz angesehen. Der Mensch muss sich aus seiner Passivität innerhalb der bedrohlichen Begrenztheit befreien, indem er sich aktiv selbst „ergreift“ (Jaspers) und dadurch „macht“ (Sartre). Für den Erzieher ergibt sich daraus die Aufgabe, dem Schüler bei diesem Schritt zur freien Wahl behilflich zu sein, und gerade nicht, ihm die Wahl abzunehmen.
Da die Existenzphilosophie, ebenso wie z.B. der Buddhismus oder der Marxismus eine übergeordnete Autorität für das menschliche Dasein ablehnt, liegt die Verantwortung dafür beim Menschen allein. Während Kierkegaard und Heidegger den Einzelnen in den Vordergrund der Betrachtungen rücken, sehen andere sein Handeln ausdrücklich immer in Beziehung zu seinen Mitmenschen, in der „Begegnung“ (Huber), der „Kommunikation“ (Jaspers) oder der „produktiven und politischen Arbeit“ (Sartre). Der Mensch muss die Verantwortung für die zwei Seiten der Existenz, Angst und Freiheit, selbst tragen, er ist auf sich selbst zurückgeworfen. Leugnet er diese Verantwortung, also überträgt er sie auf seine Mitmenschen, äußere Umstände oder eine abstrakte höhere Instanz, nimmt er seine Lebensbestimmung nicht an und verweigert seine Existenz (Quitmann: 66). Schule hat somit die Aufgabe, die Schüler zur Eigenverantwortung zu erziehen, indem sie ihnen Möglichkeiten und Konsequenzen ihres gewählten Handelns bewusst macht.

2.2. Das Menschenbild der Humanistischen Psychologie

Ein besonderes Kennzeichen der Humanistischen Psychologie als „dritte Kraft“ (Bugental) in der Psychologie ist das Fehlen einer einheitlichen Schule, Theorie oder Methode im Gegensatz zum Behaviourimus oder zur Psychoanalyse. Es gibt mehrere Ansätze und Theorien innerhalb und an den Grenzen der Psychologie, einige davon stark beeinflusst von den beiden anderen Richtungen. Auch ihre Entstehung verdankt die Humanistische Psychologie einer Vielzahl von Einflüssen. So können neben dem Existenzialismus auch die Phänomenologie, orientalische Philosophien (vor allem Konfuzianismus und Taoismus), die Anthropologie und insbesondere der Humanismus dazu gerechnet werden. Entscheidend und verbindend wirkt dabei der grundsätzliche Glaube an die Freiheit des Menschen und an dessen schöpferische Kraft, exemplarisch propagiert von Erasmus von Rotterdam. Dies zu unterstützen und zu fördern, sieht die Humanistische Psychologie als ihre Hauptfunktion an. Für die bestmögliche Erreichung dieses Ziels, für ihr Selbstverständnis empfindet sie die von ihr praktizierte disziplinübergreifende Methodenvielfalt als wesentlich (Schoor: 332).

Selbstverwirklichung
Während die instrumentalisierende Handlungskontrollabsicht des Behaviourismus grundsätzlich abgelehnt wird, sieht man auch die Homöostase-Theorie der Psychoanalyse als zu kurzsichtig an. Das Streben nach Reduktion von Bedürfnisspannungen als treibende Kraft menschlichen Lebens, kann nach den Grundsätzen der Humanistischen Psychologie nur für die Erklärung von so genannten Defizitbedürfnissen (z.B. Nahrung oder Fortpflanzung) herangezogen werden (Krone: 70). Zusätzlich zum Drang nach Spannungsabfuhr und Bedürfnisbefriedigung sieht man im schöpferischen Menschen eine Tendenz zur Selbstverwirklichung und geistigem Wachstum, die bei ihrer Realisierung ein Hochgefühl hervorruft. Das bloße Streben nach der Befriedigung von Defizitbedürfnissen ist nur bei erkrankten Menschen anzutreffen, also dann, wenn eine solche Befriedigung über einen längeren Zeitraum verweigert wurde. Die Hauptantriebskraft für menschliches Handeln sollte die Erhaltung und die Entfaltung des individuellen Geistes innerhalb der Gesellschaft (Krone: 72) sein. Auch in der Schule dienen humanistisch-psychologische Bestrebungen grundsätzlich diesem Ziel.

Autonomie und soziale Interdependenz
Individuelle Selbstverwirklichung findet in einem Wechselspiel zwischen Streben nach Autonomie und sozialer Interdependenz statt. Zu Beginn seines Lebens ist der Mensch sowohl biologisch als auch emotional von seiner Umwelt abhängig. Wird ihm allerdings durch die Familie, die Schule, Peers und andere Institutionen die Befriedigung der primären Bedürfnisse ermöglicht, strebt er durch zunehmende Beherrschung des eigenen Körpers und Geistes und die Bewältigung der Umweltanforderungen nach Unabhängigkeit von äußerer Kontrolle. Diese Aktivierung des Selbst ermöglicht eine eigene, steuernde Einflussnahme auf die Umwelt und ebenso auf die eigene Entwicklung (Schoor: 332).
Aus dieser Möglichkeit wird die Selbstverantwortung des Menschen abgeleitet. Allerdings versteht die Humanistische Psychologie darunter nicht die Notwendigkeit, dass jeder einzelne für das Gelingen seiner Existenz allein kämpfen muss. Vielmehr betont sie, dass eine Selbstverwirklichung nur in der sozialen Wechselwirkung mit anderen möglichen ist. Ein Individuum kann außerdem nur dann Verantwortung in der Gesellschaft übernehmen, wenn es sich zunächst der Verantwortung sich selbst gegenüber vollständig bewusst ist (Krone: 71).

Ziel- und Sinnorientierung
Es wird davon ausgegangen, dass es im menschlichen Handeln keine bedeutungslosen Zufälle gibt, sondern dass alles Bewusste und Unbewusste auf ein übergeordnetes Ziel hin gerichtet ist. Somit sind die Inhalte des Bewusstseins auf Objekte außerhalb des Bewusstseins gerichtet, was als Brücke zwischen innerer und äußerer Realität verstanden werden kann (Merlau-Ponty nach Krone: 74). Diese Ziele, Objekte oder Aufgaben werden als frei wählbar anerkannt, allerdings geht man davon aus, dass dies durch übersubjektive Werte, wie zum Beispiel Freiheit, Gerechtigkeit oder Menschenwürde beeinflusst ist.
Der Verlust eines solchen Ziels bzw. Sinns und somit die Unmöglichkeit eines Strebens danach führt zu einem ziellosen Treiben und ist vor allem in der Logotherapie Frankls als Grundursache für psychische Störungen anzusehen. Für die Therapie ist daher neben der Befriedigung von Defizitbedürfnissen die Sinnfindung (Schoor: 333) der Ansatzpunkt. Für die Erziehung könnte Gleiches gesagt werden: Ist der Schüler gezwungen, seine Zeit in für ihn sinnentleerten Lernstoff zu investieren, besteht für ihn die Gefahr der sinnlosen Existenz. Doch anstatt den Lernstoff mit wahrhaftem Sinn anzureichern, wird häufig auf negative Verstärkung und des Erzeugen von extrinsischer Motivation in Form Noten zurückgegriffen. Dies kann die Entstehung von Angst zur Folge haben.

Letztendlich muss betont werden, dass die Humanistische Psychologie, ebenso wie die Gestaltpsychologie, der isolierten Betrachtung einzelner psychischer Teilfunktionen skeptisch gegenüber steht. Da die menschliche Psyche mit all ihren Funktionen gleichzeitig die Erfüllung eines höheren Sinns anstrebt, muss deren gegenseitige Wechselwirkung aufeinander ebenfalls Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchung sein. Dies bildet, als Ganzheit oder auch als Holismus bezeichnet, einen weiteren Grundsatz des Selbstverständnisses der Humanistischen Psychologie (Schoor: 333).

3. Eine humanistisch-psychologische Bildungs- und Erziehungstheorie

Der Amerikaner Robert Mogar stellt 1969 eine neue Bildungs- und Erziehungstheorie im Journal of Humanistic Psychology vor, die eine Alternative zu den traditionellen amerikanischen Systemen darstellen soll. Bis dahin hatte man in den institutionalisierten Bidlungs- und Erziehungseinrichtungen vor allem auf kognitive Entwicklung, Speicherung von Wissen und losgelöste Problemslösungsstrategien Wert gelegt. Die existierenden theoretischen Ansätze eigneten sich ebenfalls nur für die Erfassung und die Erweiterung eines solchen Lern- und Entwicklungsprozesses. Die hier dargestellte Theorie basiert generell auf den Grundsätzen der in den 50er und 60er Jahren entstandenen Humanistischen Psychologie, insbesondere auf den Arbeiten von Parsons, Maslow, Goldstein und Jung. Ihnen ist eine handlungsübergreifende Ausrichtung, eine Einbeziehung des Persönlichkeitstyps, die menschliche Motivierung und Wertorientierung gemeinsam.

3.1. Persönlichkeitstypen und entsprechende Lerntechniken

Das von Mogar verwendete Typenmodell basiert auf der Persönlichkeitstheorie von Carl Gustav Jung. Es unterscheidet vier mögliche Persönlichkeitstypen, die sich aus der Kombination von zwei verschiedenen Arten der Wahrnehmung mit zwei verschiedenen Arten der Verarbeitung ergeben .
Als erste Art der Wahrnehmung wird die reine Sinneswahrnehmung angenommen. Hierbei handelt es sich hauptsächlich um bewusste Prozesse, also die absichtliche Aufnahme von informativen Einzelheiten und objektiven Gegebenheiten über die fünf Sinne. Demgegenüber steht die Intuition als zweite Art der Wahrnehmung. Sie wird als unbewusste ‚innere‘ Wahrnehmung dargestellt und betrifft unmittelbare Prinzipien, unterbewusst bleibende Möglichkeiten und Konsequenzen einer bestimmten Situation Dies können z.B. Gefahren, Nutzen oder Auswirkungen, sowohl in Bezug auf sich selbst als auch auf die Umwelt sein. Entscheidend dabei ist, dass diese Art von Wahrnehmung vom Individuum selbst nicht genauer definiert und erklärt werden kann, weshalb Mogar auch von einem sechsten Sinn spricht. Er betont, dass grundsätzlich beide Formen der Wahrnehmung bei jedem Individuum auftreten, die Welt also sowohl über Sinne als auch über Intuition wahrgenommen wird. Allerdings ist eine von beiden dominant, die andere hingegen nur latent ausgebildet. Bei beiden Wahrnehmungen kann man sich täuschen, über beide erwirbt man andere Arten von Wissen und Erfahrung.
Zu hinterfragen wäre bei der hier gemachten Unterscheidung, vor allem weil Mogar behauptet, dass beide Wahrnehmungsarten nicht gleichzeitig auftreten können (Mogar: 21), ob eine intuitive Wahrnehmung ohne die fünf Sinne überhaupt möglich ist oder ob das intuitive ‚Spüren‘ einer Bedrohung nicht durch eine unterbewusste Sinneswahrnehmung und damit verbunden Assoziationen hervorgerufen wird. Im Schulalltag könnte dies z.B. der leicht veränderte Tonfall sein, mit dem der Lehrer die Schüler am Tag einer unangekündigten Leistungskontrolle begrüßt.
Sinneswahrnehmung oder Intuition können jeweils mit den beiden verschieden Arten der Verarbeitung, mit Denken oder mit Fühlen auftreten. Beim Denken werden Entscheidungen eher unpersönlich und rational nach richtig oder falsch getroffen. Hierbei handelt es sich um kognitive Prozesse, logische Schlussfolgerungen und Ableitungen. Beim Fühlen hingegen wird affektiv und emotional zwischen angenehm und unangenehm, Vorliebe und Abneigung unterschieden. Es ergeben sich daraus folgende vier Kombinationen, die je nach ihrer Ausbildung jeweilige Persönlichkeitstypen ausmachen:
1) Sinneswahrnehmung-Denk-Kombination (SD)
2) Sinneswahrnehmung-Fühl-Kombination (SF)
3) Intuition-Denk-Kombination (ID)
4) Intuition-Fühl-Kombination (IF)
Jede dieser vier Kombinationen ist für jedes Individuum möglich, allerdings wird nur eine davon dominant ausgebildet und grundsätzlich angewendet. Zwei weitere Kombinationen, und zwar jene, die jeweils auch ein Element der dominanten Kombination in sich enthalten, fungieren als Neben-Wahrnehmungs-Verarbeitungsmechanismen, während die vierte Kombination, das entsprechende Gegenteil zur dominanten Kombination, im Allgemeinen unentwickelt bleibt. Eine grundsätzlich sinneswahrnehmend-denkende Person beispielsweise kann auch sinneswahrnehmend fühlen oder intuitiv denken aber schwerlich intuitiv fühlen.
Das Vorziehen einer bestimmten Kombination entwickelt sich von Kindheit an und ist beeinflusst durch Erziehung, konstante Anwendung und das daraus resultierende Vertrauen in diese Art, die Realität aufzunehmen. Folgende Tabelle veranschaulicht die resultierenden Persönlichkeitstypen und ihre entsprechenden Neigungen:

Personen, die bevorzugen SD SF ID IF
achten auf Fakten Fakten Möglichkeiten Möglichkeiten
verarbeiten diese durch unpersönliche Analyse persönliche Wärme unpersönliche Analyse persönliche Wärme
neigen zu sein pragmatisch, sachlich sozial, freundlich intellektuell begabt enthusiastisch, einfühlsam
finden Erfüllung in Bauwesen, Produktion, Buchhaltung, Maschinenbau Verkauf, Dienstleistungen, Sozialarbeit, Öffentlichkeits-arbeit Management, Mathematik, Forschung, Wissenschaft, Lehre Schreiben, Architektur, Psychologie
erfahren bevorzugt durch (Methoden, Techniken) technische Geräte, Autosuggestion, Rationale Therapien körperliche und sinnliche Bewusstheit, Gruppentherapie Gruppenarbeit wie Brainstorming, T-Gruppen, Gesprächstherapie Meditation, Psychopharmaka, Gestalttherapie
(nach Mogar: 24; Die angegebenen Daten sind durch Myers-Briggs und Ginzberg & Holland in den 60er Jahren empirisch bestätig worden.)

3.2. Bedürfnisebenen auf einer Defizit-Wachstums-Skala

Das Ansprechen einer Person auf bestimmte Vermittlungsmethoden hängt neben dem Persönlichkeitstyp noch von einem weiteren Faktor ab, nämlich der bei ihr vorherrschenden Bedürfnisebene. Bei der von Maslow 1954 entwickelten Theorie (siehe auch Fromm, Goldstein, Allport) wird eine Hierarchie der Bedürfnisebenen postuliert, über die man auch auf den Entwicklungszustand eines Menschen schließen kann. Die zwei Hauptunterscheidungsmerkmale sind dabei Defizitbedürfnisse gegenüber dem Wachstumsbedürfnis, woraus Rogers auch eine Unterscheidung zwischen Defizit- und Wachstumsmotivation ableitet.
Die Defizitbedürfnisse werden ihrerseits von Maslow noch weiterhin in die folgenden vier Stufen unterschieden, beginnend mit der niedrigsten:
1) Physiologische Bedürfnisse, z.B. Hunger, Schlaf, Fortpflanzung
2) Bedürfnis nach Sicherheit
3) Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Liebe
4) Bedürfnis nach Anerkennung und Wertschätzung

Das Individuum ist bemüht, diese Bedürfnisse ihrer Reihenfolge nach, zu befriedigen, beginnend mit den physiologischen, da diese am ehesten essentiell für eine unbeschadete Gesundheit des Menschen sind. Gemeinsam ist den Defizitbedürfnissen, dass ihre Befriedigung obligatorisch für eine gesunde Daseinsweise ist. Als Aufgabe der Schule kann primär die Hilfe zur Befriedigung vom Bedürfnis nach Anerkennung und Wertschätzung gesehen werden, sekundär jene zur Befriedigung vom Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Liebe. Im Allgemeinen sind jedoch hauptsächlich Familie und Peers für die Befriedigung von Defizitbedürfnissen hilfreich. Wird eines von ihnen über längere Zeit nicht befriedigt, erzeugt dies zunächst Anspannung und Unwohlsein und später psychosomatische Krankheiten und Neurosen. Jeder Persönlichkeitstyp neigt dabei zu jeweiligen Symptomen, die Myers-Briggs, Witkin u.a. in der amerikanischen Gesellschaft, (exemplarisch für andere westliche Gesellschaften) empirisch bestätigt fanden: SD neigt zu Zwangsvorstellungen, Geschwüren, Phobien; SF neigt zu Hysterie, Alkoholismus, Manien, asozialem Verhalten; ID neigt zu Angst, Depression, Schlaflosigkeit, Migräne; IF neigt zu Halluzinationen, Wahnvorstellungen, Autismus.
Das Wachstumsbedürfnis wird von Maslow nicht weiter unterschieden. Hiermit ist das Bedürfnis nach Selbstentdeckung und Selbstentfaltung gemeint, welches sich durch Charakterbildung, Reifeprozesse und persönlichen Ausdruck manifestiert. In den verschiedenen westlichen und östlichen Traditionen entspricht dies den jeweiligen ‚Pfaden der Erleuchtung‘: SD sucht nach Arbeit und Körperkontrolle; SF sucht nach Liebe; ID sucht nach Wissen und Gedankenkontrolle; IF sucht nach innerer Harmonie und Frieden.
Während ein unerfülltes Defizitbedürfnis als unangenehm empfunden wird, kann ein unerfülltes Wachstumsbedürfnis als willkommen akzeptiert werden. Seine Befriedigung hat auch nicht wie bei Defizitbedürfnissen eine Motivationssenkung zur Folge, sondern eine Motivationserhöhung. Je mehr der Mensch beginnt sich zu entfalten, desto mehr wird es sein Ziel sein, dies fortzuführen. Die Befriedigung von vermeidet lediglich das Entstehen von Krankheiten, die Befriedigung von Wachstumsbedürfnissen hingegen fördert die Gesundheit, so Maslow (Mogar: 26).

3.3. Verschiedene Bildungsansätze und ihre Auswirkungen

Mogar geht davon aus, dass die passende Lehrmethode für einen Menschen sowohl von seinem Persönlichkeitstypen, als auch von der bei ihm vorherrschenden Bedürfnisebene abhängt. Die Montessorimethode beispielsweise eignet sich für ID-Kinder, wird aber eine andere Auswirkung auf solche haben, die gerade Liebe und Zugehörigkeit benötigen als auf solche, die sich auf dem Bedürfnisniveau von Anerkennung und Wertschätzung befinden.
Durch Untersuchungen wurde festgestellt, dass Symptome für unbefriedigte Defizitbedürfnisse in den westlichen Gesellschaften sehr weit verbreitet sind (vgl. Mogar: 27). Die Ursache dafür ist, dass sowohl professionelle als auch erzieherische Ansprüche unserer Gesellschaft Fähigkeiten des SD-Typen stark bevorzugen und fördern. Nach Jung kommt es nämlich zu pathologischen Folgen, wenn die vorherrschende Wahrnehmungs-Verarbeitungsweise eines Individuums unterdrückt und eine weniger gut entwickelte ständig beansprucht wird.

Vereinheitlichender Ansatz (uniformity approach)
Von den drei Ansätzen die Mogar vorstellt, ist dies jener, der in unserer Gesellschaft die häufigste Anwendung findet. Dabei werden alle Individuen, unabhängig von ihren jeweiligen Persönlichkeitstypen mit denselben Vermittlungstechniken und Lernansprüchen konfrontiert. In erster Linie sind das heutzutage SD-Techniken (sachlich), gefolgt von SF-Techniken (sozial) was eine Förderung der kognitiven und eine Vernachlässigung der intuitiv-affektiven Fähigkeiten zur Folge hat. Konsequenterweise kann man davon ausgehen, dass ID- und SF-Typen verstärkt pathologische Symptome aufweisen. Wie bereits erwähnt, können sich diese insbesondere beim ID-Typen durch (Schul-) Angst manifestieren.

Angepasster Ansatz (congruity approach)
Hierbei werden die Vermittlungstechniken auf jeden Persönlichkeitstypen individuell angepasst. Dadurch ist es möglich, Wissen und Erfahrung über den vorherrschenden Wahrnehmungs-Verarbeitungsmechanismus (W-V-Mechanismus) optimal zu vermitteln und diesen dabei zu fördern. Im Gegensatz zum vereinheitlichenden Ansatz, der eine übergreifende Spezialisierung für die gesamte Gesellschaft zur Folge hat, bewirkt der angepasste Ansatz die individuelle Spezialisierung der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft. Somit kann die Befriedigung der Defizitbedürfnisse des Menschen und der Gesellschaft, z.B. nach Sicherheit und Anerkennung sichergestellt werden. Der Nachteil ist allerdings, dass die alternativen W-V-Mechanismen des Einzelnen unberücksichtigt bleiben, was zur Entwicklung von relativ einseitigen Charakteren führt und die Befriedigung bzw. auch das Entstehen eines Wachstumsbedürfnisses einschränkt.

Ergänzender / ausgleichender Ansatz (complementary / compensatory approach)
Dieser dritte und letzte vorgestellte Ansatz hat das ausdrückliche Ziel, weniger entwickelte W-V-Mechanismen des Einzelnen zu fördern, um seine Möglichkeiten, die Welt aufzunehmen und zu begreifen, zu erweitern. Vorraussetzung ist dabei die bereits vollständige Ausprägung des bevorzugten W-V-Mechanismus und die vollständige Befriedigung der Defizitbedürfnisse, da es sonst zu Neurosen wie beim vereinheitlichenden Ansatz kommen kann. Der ergänzende Ansatz kann darum zeitlich nur auf den angepassten Ansatz folgen und ist ausschließlich für die Befriedigung des Wachstumsbedürnisses geeignet.

Schlussfolgernd aus Mogars Ausführungen kann festgehalten werden, dass für eine grundlegende Ausbildung durch den Lehrer an der Schule der angepasste Ansatz der am meisten geeignete zu sein scheint. In der Praxis wird es auch hier reine Formen nicht geben, sowohl vereinheitlichender Ansatz, als auch ausgleichender Ansatz werden sich mit angepasstem Ansatz überschneiden, somit jenen abschwächen oder auch ergänzen. Da die Entstehung von Angst als Symptom nicht befriedigter Defizitbedürfnisse identifiziert werden kann, ist es die primäre Aufgabe von Schulbildung und -erziehung eben jene zu befriedigen, soweit dies in ihrem Einflussbereich möglich ist. Die Befriedigung von Wachstumsbedürfnissen ist sekundär und sollte zunächst nur ein ergänzendes Ziel sein, indem dem Individuum verschiedene Möglichkeiten dafür aufgezeigt werden.
Da die derzeitige Gesellschaft SD- und SF-Fähigkeiten ohnehin bevorzugt fördert, und somit die Befriedigung von Defizitbedürfnissen dieser Persönlichkeitstypen relativ sicher gestellt ist, ist davon auszugehen, dass Schulangst bei ihnen eher selten auftritt. Priorität für den Erzieher muss es also eine erhöhte Aufmerksamkeit auf ID- und IF-Typen, und die Anwendung entsprechender Methoden und Vermittlungstechniken sein. Die im Folgenden vorgestellten praktischen Beispiele sollen unter diesem Gesichtspunkt genauer betrachtet werden. Betont sei dabei, dass sich die Humanistische Psychologie die Förderung von intuitiv-affektiven Fähigkeiten nicht explizit zur Aufgabe macht, sich diese aber als Ausgleich zum bestehenden System ergibt, damit gesunde, angstfreie und zufriedene Persönlichkeiten entstehen können.





4. Projekt zur Schulangstreduktion von Peter Strittmatter
4.1. Grundlagen und Ziel des Projekts

Das Projekt mit dem Titel „Konkretisierung, Durchführung und Evaluation pädagogischer Maßnahmen zum Abbau von Angst in schulischen Leistungssituationen“ ist ein disziplinübergreifendes Projekt, dass sich die Reduktion von Schulangst mit verschiedenen zur Verfügung stehenden Mitteln zum Ziel gesetzt hat. Es wurde von einer Gruppe um Peter Strittmatter aufgrund einer Befragung im Auftrag des saarländischen Kultusministeriums von 1976/77 durchgeführt. Befragt wurden damals 1800 Schüler der Sekundarstufe I, und auch 380 Lehrer wurden mit einbezogen, um eigene Belastungen, vor allem aber auch die der Schüler zu beurteilen. Durch die Auswertung der erhobenen Daten konnte das Bild einer „schulängstlichen Schülerpersönlichkeit“ (Strittmatter: 14) definiert werden, welche sich vor allem durch eine Misserfolgsorientierung auszeichnet: eine Angst vor Misserfolg und das gleichzeitige damit Rechnen. Ursachen dafür sind vor allem ein negatives Selbstbild und ein geringes Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit. Auf das Modell von Mogar angewendet kann man davon ausgehen, dass den betreffenden Schülern eine Befriedigung des Defizitbedürfnisses nach Anerkennung und Wertschätzung über einen längeren Zeitraum versagt geblieben ist. Dies wird durch die Erkenntnis bestätigt, dass die betreffenden Eltern typischerweise mangelnde Anstrengung als Ursache für schlechte Noten vermuten und versuchen eine Verbesserung durch erhöhte Strenge zu erzwingen.
Wenn an dieser Stelle zunächst noch keine ausdrücklichen Angaben über Lehrerverhalten gemacht werden, konnten dennoch die von Roth 1971 getroffenen und in Strittmatters Einleitung (S. 11) zitierten Aussagen bestätigt werden:
„Was die Forschung heute nachweisen kann, ist u.a., daß es viel zu viel unnötige, zusätzliche, irrationale Angst gibt und daß daran nicht zuletzt die Erziehung selbst Schuld hat. Wir haben erzogen, und wir erziehen immer noch zu viel durch Erzeugung von Angst. Was wir lernen müssen, ist die angstfreie Erziehung, deren Ziel es ist, Angst zu reduzieren, zu Angsttoleranz zu erziehen, Angst wagen zu lernen.“
Ganz im Gegensatz also zu den humanistisch-psychologischen Idealen wird den Kindern nicht bei der Selbstbefreiung von Angst zur Seite gestanden, sondern jene geradezu noch verstärkt, um ein kurzfristig gewünschtes Verhalten hervorzurufen. Unerwünschte langfristige Konsequenzen werden dabei ignoriert und nicht in Betracht gezogen. Dies zu ändern war Ziel des anschließend entwickelten und im Schuljahr 1983/84 durchgeführten Projektes: die Reduzierung von künstlich erzeugter Angst. Dies kann als problematisch angesehen werden, weil die gesamte schulische Situation unter Umständen als künstlich und relativ abgeschnitten von der ‚äußeren Realität‘ empfunden wird. Dadurch fehlen bis zu einem gewissen Grad natürliche bedürfniserzeugende Umstände, und Lehrer und Schüler sind auf künstlich erzeugte Motivation, also manipulierte positive und negative Verstärkung angewiesen, um Verhalten zu kontrollieren.
Als Alternative kann die von der Humanistischen Psychologie vorgeschlagene Methode angewendet werden, die Bemühungen auf die Befriedigung des individuellen Wachstumsbedürfnisses zu richten, sobald die Befriedigung der Defizitbedürfnisse sicher gestellt ist. Auf den ersten Blick mag dieses Vorgehen so erscheinen, als ob dabei die Funktion der Sozialisation (Durkheim), aus den Menschen nützliche Teile der Gesellschaft zu machen, zu Gunsten des Individuums vernachlässigt wird. Aber nach Überzeugung der Humanistischen Psychologie schließen sich diese beiden Aspekte des Seins nicht nur nicht aus, sondern bedingen sich sogar gegenseitig.
Eng verbunden damit ist die Aufgabe des Lehrers, durch Praxisnähe und Handlungsorientierung Bezugspunkte zwischen Unterricht und außerschulischer Realität herzustellen. Dadurch kann jener im Sinne Frankls mit Sinn angereichert und eine Anregung zur Selbstverwirklichung werden.

4.2. Jacobs‘ Adaption der kognitiven Stresstheorie von Lazarus

Als theoretisches Verständnismodell zur Entstehung und dementsprechend zum Abbau von Angst wurde die kognitive Stresstheorie von Lazarus gewählt und durch Jacobs auf schulische Leistungssituationen angepasst. Entscheidend an diesem Modell ist die Überzeugung, dass eine Situation nicht an sich angstauslösend ist, sondern erst durch ihre Wahrnehmung und Verarbeitung als solche interpretiert wird. Bezieht man die Ausführungen Mogars auf dieses Modell, wird klar, dass die verschiedenen Persönlichkeitstypen nach Jung mit jeweilig verschiedenen Bedürfnissen in unterschiedlichen Situationen mit Angst reagieren. Unter diesem Gesichtspunkt soll im folgenden Jacobs‘ Adaption schematisch dargestellt und anschließend erläutert werden:

geringe subjektive Kompetenz
hohes Kompetenz-defizit geringe Wahrscheinlichkeit, AN zu erreichen

hohes Anspruchs-niveau (AN) Angst in Prüfung


hohe Motivation, AN zu erreichen
(Strittmatter: 17; nach Strittmatter & Bedersdorfer 1991, Pädagogische Interventionsforschung)

Die drei fett umrahmten Faktoren stellen Variablen dar, die entscheidend bei der Entstehung von Angst wirken. Entsprechend ihrem Ausmaß steigt der Grad an Stress oder Angst, den eine Situation bei einem bestimmten Individuum auslösen kann. Durch ihre Veränderung kann man den Angstentstehungsprozess beeinflussen, im semi-künstlichen Umfeld Schule noch besser als in der außerschulischen Realität.
Subjektive Kompetenzen sind Ressourcen, die dem Individuum seinem Empfinden nach bei der Lösung einer Konfliktsituation zur Verfügung stehen. Es handelt sich hierbei wohlgemerkt nicht um die realen Fertigkeiten und Fähigkeiten des Schülers, sondern darum, wie diese von ihm eingeschätzt werden. Ein Schüler beispielsweise, der aufgrund eines unbefriedigten Wertschätzungsbedürfnisses seine eigenen Möglichkeiten als zu gering einschätzt, wird auf eine bestimmte Situation mit Angst reagieren, obwohl sie mit seinen realen Kompetenzen zu bewältigen wäre.
Als Anspruchsniveau wird der Grad bezeichnet, mit dem eine Konfliktsituation nach persönlichem Empfinden des Individuums, bewältigt werden soll. Ein Schüler kann bei einer Klassenarbeit beispielsweise die Note 1 erreichen wollen, ihm kann es aber auch reichen, sie einfach zu bestehen. Das Anspruchsniveau wird subjektiv festgelegt, ist aber wesentlich von den äußeren Einflüssen des Schülers abhängig. Je höher das Anspruchsniveau im Verhältnis zur subjektiven Kompetenz ist, desto höher ist das Kompetenzdefizit, also der vom Schüler eingeschätzte Abstand zwischen eigenen Leistungsmöglichkeiten und den Leistungsanforderungen.
Bei einem Individuum mit vollständig befriedigten Defizitbedürfnissen, welches sich also auf der Selbstverwirklichungsebene befindet, könnte eine Leistungstestsituation wie folgt interpretiert werden: Das Anspruchsniveau würde sich entsprechend individueller Bezugsnorm an den subjektiven Kompetenzen orientieren und entsprechend formuliert werden: „Ich gebe mein bestes nach meinen Möglichkeiten. Mein Ziel ist es, meine Fähigkeiten zu verbessern, auch eine Leistungssituation dient zum Sammeln von Erfahrungen. Ich werde mit dem Ergebnis zufrieden sein, weil ich weiß, dass es meinen Kompetenzen entspricht und dass die Befriedigung meiner Bedürfnisse nach Liebe und Anerkennung nicht davon abhängt.“
Vollkommen anders sieht die Situation natürlich für einen Schüler aus, bei dem die Befriedigung von Defizitbedürfnissen an schulischen Erfolg gekoppelt ist. Erlangt er oder sie nur Anerkennung, Wertschätzung oder sogar Liebe bei Erreichen des von außen verlangten Anspruchsniveaus, ist die Motivation, diesem Anspruch gerecht zu werden entsprechend hoch. Tritt solch eine hohe Motivation zusammen mit einer als hoch eingeschätzten Misserfolgswahrscheinlichkeit (aufgrund eines hohen Kompetenzdefizits) auf, entsteht Angst.
In Bezug auf die verschiedenen Persönlichkeitstypen mit verschiedenen bevorzugten W-V-Mechanismen kann gesagt werden, dass dies vor allem die subjektiven Kompetenzen beeinflusst. Ein IF-Typ wird seine Kompetenzen zur Lösung einer SD-Aufgabe als gering einschätzen, während ein SD-Typ offensichtlich zuversichtlicher sein kann. Durch den vorherrschenden Vereinheitlichenden Vermittlungsansatz, wird eine hohe Anzahl von Schülern ständig mit diesem Umstand konfrontiert. Dies und die Tatsache, dass die Befriedigung von Defizitbedürfnissen an schulischen Erfolg gekoppelt ist, scheinen die beiden Hauptgründe für die Entstehung von Schulangst zu sein.

4.3. Der humanistisch-psychologische Ansatz im Projekt

Auf der Grundlage der dargestellten Stresstheorie wurden über komplexe Zielbaumverfahren und einen Auswahlprozess nach Effektivität, Manipulierbarkeit, Ökonomie und anderen Kriterien technologische Handlungsempfehlungen abgeleitet, die den praktischen Abbau von Angst in der Schule ermöglichen sollen (Strittmatter: 17 ff). In vier Bausteinen wurden diese Handlungsempfehlungen zusammengefasst und ausgearbeitet, sodass insgesamt ein komplexes und domänenübergreifendes Programm entstand. Humanistisch-psychologische Elemente lassen sich in allen der vier Bausteine finden, besonders aber und fast ausschließlich basiert Baustein I „Lehrer-Schüler-Interaktion“ auf den Grundlagen der Humanistischen Psychologie.
Ziel dieses Bausteins ist das Schaffen eines positiven Lernklimas, wobei der Lehrerperson durch ihren Vorbildcharakter die Hauptaufgabe zukommt. Strittmatter wählte dafür die Prinzipien der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie von Carl Rogers (hierzu auch Krone: 98 ff.), welche mit wenigen Abstrichen auf die schulische Situation angepasst werden können. Konkret bedeutet dies die Anforderung an den Lehrer, den Schüler (1) uneingeschränkt zu akzeptieren und wertzuschätzen, (2) einfühlendes und empathisches Verstehen aufzubringen und (3) sich kongruent und authentisch zu verhalten.

(1) Uneingeschränktes Akzeptieren und Wertschätzen
Diese Direktive hat ausdrücklich die Befriedigung des Defizitbedürfnisses nach Anerkennung und Wertschätzung zum Ziel. Nach dem Prinzip der Mutterliebe (Fromm: 62) soll das Individuum so angenommen und wertgeschätzt werden, wie es ist, und präziser noch, gerade weil es so ist. Wertschätzung sollte jedem Schüler, unabhängig vom Inhalt seiner Meinung oder seiner Leistung vermittelt werden. Dies geschieht sowohl verbal als auch über Mimik, Gestik und Tonfall. Spürt der Schüler, dass sein Bedürfnis nach Anerkennung und Wertschätzung unabhängig von seinen schulischen Leistungen befriedigt wird, sinkt seine Motivation, dass von außen vorgegebene Anspruchsniveau zu erreichen und damit auch seine Angst. An diesem Punkt kann die Kritik an der Humanistischen Psychologie ansetzen, da so scheinbar die Gefahr eines Leistungsabfalls gegeben ist. Gemäß der Defizit-Wachstumsbedürfnis-Skala kann der Schüler aber nach Befriedigung der Defizitbedürfnisse zur Befriedigung des Wachstumsbedürfnisses übergehen. Anstelle der Defizitmotivation tritt eine positive Wachstumsmotivation, die im Angstenstehungsprozess keine Funktion erfüllt.

(2) Konzentriertes Zuhören und einfühlendes Verstehen
Dies bedeutet, den Schüler ernst zu nehmen und ihm das Gefühl zu geben, dass das von ihm Gesagte wichtig ist. Um den Schüler zu verstehen, muss sich der Lehrer bewusst machen, dass eine objektiv gleiche Welt von jedem subjektiv anders wahrgenommen wird. Hier wird besonders deutlich, wie sehr die Lehrerperson auf das Erkennen und Anwenden unterschiedlicher W-V-Mechanismen nach Jung angewiesen ist. Gerade sie muss in der Lage sein, als harmonisch und möglichst komplett entwickelte Persönlichkeit nicht nur den bevorzugten W-V-Mechanismus anzuwenden, sondern auch jene, die weniger gut entwickelt sind. Dabei ist es wichtig, sich eigene Grenzen bewusst zu machen und zu akzeptieren, dass man sich selbst noch im Lernprozess befindet und Fehleinschätzungen möglich sind.

(3) Kongruenz / Echtheit / Authentizität
Dieses dritte und letzte Prinzip von Rogers ist Grundvorrausetzung dafür, das die Anwendung der beiden ersten Prinzipien überhaupt wirksam sein kann. Es warnt vor der Gefahr, bloße antrainierte, von der inneren Einstellung losgelöste Verhaltensweisen als schnelle und einfache Lösungen zu empfinden. Spürt nämlich der Schüler, dass Verhalten und innere Denkweise der Lehrerperson nicht miteinander übereinstimmen, verstärkt sich sein Gefühl des Misstrauens, das Defizitbedürfnis nach Sicherheit steigt und somit auch die Tendenz zur Angst.

Durch die Anwendung der Prinzipien von Rogers sollen vor allem die beiden Variablen Subjektive Kompetenz und Motivation, das Anspruchsniveau zu erreichen im Angstentstehungsprozess beeinflusst werden: Erstens wird durch Befriedigung des Wertschätzungsbedürfnisses ein positiveres Selbstbild des Schülers erzeugt, was eine positivere Einschätzung der subjektiven Kompetenz zur Folge hat. Zweitens wird dadurch auch die Defizitmotivation gesenkt, also die Motivation, das Anspruchsniveau zu erreichen um dafür Anerkennung zu erlangen.
Insgesamt ist das Ziel, die umfassende Befriedigung der Defizitbedürfnisse, erreichbar durch individuelles Eingehen auf die Schüler, was dem Angepassten Ansatz nach Mogar nahe kommt. Dadurch wird ein Übergang zur Wachstumsmotivation angestrebt, was das Funktionieren des Angstentstehungsprozesses nach Jacobs aus den bereits genannten Gründen außer Kraft setzen würde.



4.4. Wirkung von Baustein I und Kritik

An dem von Strittmatter angebotenen Programm nahmen 17 Lehrer teil. Zunächst wurden sie in einem mehrwöchigen Trainingsprogramm mit den anzuwendenden Methoden der vier Bausteine vertraut gemacht, wobei sie auch die Möglichkeit hatten sich selbst in deren Konzeption einzubringen. Anschließend sollten die gewonnen Erkenntnisse in den Schulalltag integriert werden. Sowohl Trainingsprogramm als auch tatsächliche Umsetzung wurden dokumentiert und anschließend evaluiert.
Eine so genannte Input-Evaluation gibt Auskunft über die persönliche Meinung der teilnehmenden Lehrer zu den einzelnen Bausteinen. Über das Trainingsprogramm von Baustein I wurde Folgendes festgehalten: Vor allem durch Rollenspiele konnte ein höheres Verständnis für die Schülerrolle entwickelt werden. Die Lehrer schätzten sich den einzelnen Sitzungen als offener für Schülerbelange ein. Die Umsetzung der Maßnahmen wurde allerdings als problematisch betrachtet, insbesondere aufgrund der Vielzahl der Schüler und den relativ festen Lehrplanvorgaben. Letztendlich wünschten sich die Lehrer mehr Zeit für Skilltraining, Rollenspiele und Unterrichtsversuche. Außerdem wurde der Wunsch nach Hospitation geäußert.
Eine Transfer-Evaluation wurde von Strittmatter durchgeführt, um zu überprüfen, inwieweit die erwünschten Maßnahmen von den Lehrern umgesetzt werden konnten. Somit konnte nachvollzogen werden, ob bei Verfehlung des Ziels Schulangstreduktion die mangelnde Wirksamkeit der Maßnahmen oder deren begrenzte Umsetzung verantwortlich zu machen sein. Zu Baustein I wurden im ersten Versuchsjahr 1983/84 ein deutlicher Anstieg gesprächsfördernder Elemente im Unterricht festgestellt, im zweiten Jahr ging dieser allerdings wieder um die Hälfte zurück. Dennoch bestand weiterhin ein großer Unterschied zu einer Gruppe von Kontrolllehrern. Das Vorkommen gesprächshemmender Elemente im Unterricht hingegen (z.B. direktiv und abwertend) sank zunächst, stieg aber letztendlich wieder auf das Niveau der Kontrollgruppe an. Insgesamt waren große interindividuelle Unterschiede bei der Umsetzung der Maßnahmen zu erkennen, was vermutlich unter anderem auf die verschiedenen Persönlichkeitstypen der Lehrer zurückgeführt werden kann.
Die Evaluation im engeren Sinne wurde auf der Grundlage von Fragebögen realisiert, die von den betreffenden 340 Schülern und 270 Kontrollschülern ausgefüllt wurden. Darin wurde vor allem zwischen generalisierter Schulangst und lehrerspezifischer Angst unterschieden. Für die Wirkung der einzelnen Bausteine liegen keine gesonderten Daten vor, allerdings kann man davon ausgehen, dass sich die Prinzipien von Rogers hauptsächlich auf den lehrerspezifischen Angstentstehungsprozess auswirken.
Insgesamt wurde das Oberziel „Abbau von Schulangst“ erreicht, im Bereich der generalisierten Schulangst mit kleineren Abstrichen. Das lehrerspezifische Angstmaß jedoch zeigte den von Strittmatter angestrebten Effekt. Mehrere Kategorien weisen darauf hin, dass die Versuchsschüler weniger Angst gegenüber ihren Lehrern empfanden als die Kontrollschüler. Im Laufe des Versuchsjahres wurden die Versuchslehrer als „zunehmend sozioemotional förderlicher wahrgenommen“ (Strittmatter: 155), die Wahrscheinlichkeit von ihnen abgewertet zu werden sinkt für die Schüler. Auffällig war dabei, dass die Angstreduktion bei einzelnen Schülern besonders deutlich ausfiel, während von anderen keine Veränderung rückgemeldet wurde. Dies könnte einerseits auf die interindividuellen Unterschiede bei der Umsetzung der Maßnahmen seitens der Lehrer zurückzuführen sein oder auf unterschiedliche Schülerpersönlichkeitstypen die jeweils anders darauf reagieren.
Außerdem wurde festgestellt, dass eine eventuelle Abwertung durch einen Versuchslehrer als wesentlich gravierender und angstauslösender empfunden wurde als solche von einem Kontrolllehrer. Eine engere soziale Beziehung bedeutet also auch mehr Einfluss und mehr Verantwortung für den betreffenden Lehrer. Dennoch hat im Gegensatz zu den Kontrollklassen kaum ein Schüler eine negative Bedrohungsentwicklung empfunden, was für den generalisierenden und präventiven Charakter der Maßnahmen spricht.

5. Abbau von sozialer Angst durch Poesie
5.1. Aufbau des Projekts und Bezug zum Abbau von Schulangst

Das folgend beschriebene Projekt hatte den Abbau von sozialer Angst innerhalb von Gruppen zum Ziel. Es wurde im Rahmen eines Seminars am Downing College, Long Island, NY gemeinsam von Lucien Buck, Professor für Psychologie und Aaron Kramer, Dozent für Englische Literatur initiiert. Teilgenommen haben daran zwei verschiedene Gruppen: Zum ersten besuchten das Seminar neun Studenten im Hauptstudium. Nach acht Wochen intensiver theoretischer und praktischer Vorbereitung, unter anderem auf der Basis des Werkes Poetry Therapy von James Leedy, 1969 (vgl. Buck: 57), begann das Projekt mit dem Kennenlernen der zweiten Gruppe, bestehend aus 12-20 Leuten eines psychischen Rehabilitationszentrums. Während sieben Wochen wurde dann versucht, mit der Hilfe von Poesie und bildlicher Sprache eine zunehmende Direktheit und Offenheit in der Kommunikation zwischen den Projektteilnehmern herzustellen, somit Vertrauen zu schaffen und Angst abzubauen (Buck: 58).
Die teilnehmenden Patienten leiden offensichtlich bereits an verschiedenen pathologischen Symptomen, hervorgerufen durch unbefriedigte Defizitbedürfnisse. Des Weiteren ist zu vermuten, dass der Anteil von Nicht-SD-Typen unter ihnen wahrscheinlich wesentlich höher ist als im durchschnittlichen Teil der Bevölkerung. Doch auch bei den Studenten des Seminars konnten besonders während der Anfangsphase des Projekts Angstsymptome beobachtet werden. Grund für ihre Teilnahme war also neben einer Wachstumsmotivation ebenfalls der Drang, ihre Möglichkeiten bei der Befriedigung von Defizitbedürfnissen zu erweitern.
Auch wenn dieses Projekt nicht im Rahmen der primären Schulbildung stattgefunden hat, kann es wertvolle Anregungen zum Abbau von sozialer Angst innerhalb einer Klasse geben. Wie auch Beispiele von Unterrichtsentwürfen während des Strittmatterprojekts (Strittmatter: 149 ff.) zeigen, ist der Sprachenunterricht, insbesondere der in der Muttersprache, hervorragend geeignet für die indirekte Kommunikation von persönlichen Gefühlen über Symbole, Metaphern oder literarischen Rollen. Gleichzeitig können so wertvolle Bezugspunkte zwischen Unterrichtsstoff und persönlichem Erleben der Welt geschaffen werden, wodurch die Schüler durch eine erweiterte Sinnebene eine erhöhte Befriedigung im Unterricht erfahren.

5.2. Wirkungsweise von Poesie beim Angstabbau

Bereits in der ersten der sieben wöchentlichen Sitzungen waren die Projektinitiatoren Buck und Kramer um eine nicht-direktive Haltung (Rogers) gegenüber den Teilnehmern bemüht. Sowohl vor Beginn der Sitzung, als auch nach der Klärung formeller und inhaltlicher Fragen drückten Patienten und Studenten indirekt über ihr Verhalten Anspannung und Angst aus (Buck: 59). Durch die relative Passivität jener, von denen man Initiative erwartete, sah man sich mit der Bedrohung durch Peinlichkeit und Bloßstellung konfrontiert. Keiner der Anwesenden schätzte seine subjektive Kompetenz als ausreichend ein, um Verantwortung innerhalb der Gruppe zu übernehmen. Da Vertrauen und Zugehörigkeitsgefühl fehlten, können das Anspruchsniveau, einen guten Eindruck zu machen, und die Motivation, dies zu erreichen zu diesem Zeitpunkt als entsprechend hoch eingeschätzt werden.
Durch erste relativ oberflächliche Andeutungen über bisherige Kontakte zu Poesie konnten aber schließlich zwei für die Gruppe wichtige Ansatzpunkte gefunden werden: Erstens wurde über die Erwähnung eines Gedichts aus As You Like It von Shakespeare eine Diskussion über des Spielen von Rollen innerhalb der Gesellschaft angeregt. Auch wenn diese Diskussion auf einer sehr unpersönlichen Ebene stattfand, wurde doch der für die Poetry Therapy wesentliche Schritt des Aufdeckens von Parallelismen vollzogen. Zweitens wurde gefragt, ob das Zitat „Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst.“ von John F. Kennedy (nach Buck: 59) als Poesie anzusehen sei. Dadurch gelangte man zu der damit in Beziehung stehenden, präsenteren Problematik, ob der Nutzen der Gruppe für die Bedürfnisse des Individuums dessen Investition für die Bedürfnisse der Gruppe rechtfertigt und vice versa. Auch hier blieb man bei der Behandlung der Thematik auf einer eher allgemeinen Ebene, die Beziehung zur Projektgruppe war aber implizit vorhanden und allgemein erkennbar.
Das hier bereits deutlich erkennbare Schema des Kommunizierens über Parallelismen wurde im Laufe des Projekts konstant verwendet und ausgebaut. Der Unterschied mit fortwährender Dauer war lediglich der Grad an Persönlichkeit des in bildhafter Sprache Mitgeteilten. Bereits in der zweiten Sitzung beispielsweise präsentierte ein Patient eine selbstgeschriebene autobiografische Ballade über seinen Lebensweg bis "here" ins Rehabilitationszentrum bzw. bis "here" in das Poesieprojekt. Nach dem Vortrag war es ihm möglich, selbst analysierende und erklärende Ausführungen zu machen, die das soeben poetisch Gesagte auch auf direktere Weise ausdrückten.
"[…]
Long have I wandered. Is Hell this way?
WOW-NOW - Here I am, By myself,
But not Alone
This is a Barn Yard-Acceptance
I‘ve found my Home." (Patient AH, nach Buck: 60)

Daran lassen sich exemplarisch mehrer wichtige Funktionen von Poesie beim Abbau von sozialer Angst erläutern. Erstens stellt Poesie eine Sprachebene dar, die sich per Definition eignet, um Gefühle auszudrücken. Dies bedeutet, dass tendenziell andere W-V-Mechanismen beansprucht werden, als die des SD-Typen. Nicht-SD-Typen haben also über diese, ihnen liegende Form der Kommunikation verbesserte Möglichkeiten, die Befriedigung ihrer Defizitbedürfnisse zu erreichen. Wachstumsmotivierten SD-Typen hingegen, ist die Möglichkeit gegeben, bei ihnen weniger ausgebildete W-V-Mechanismen zu entwickeln.
Zweitens ist das Produzieren von Literatur als ästhetischer Ausdrucksform eine von der Gesellschaft angesehene und respektierte Form der Selbstverwirklichung. Das Mitteilen von persönlichen Gefühlen kann somit durch eine anerkannte Art und Weise von Produktivität gerechtfertigt werden. Im Gegensatz zum ‚nicht-lösungsrelevanten Lamentieren‘ hat der Mitteilende nicht das Gefühl, den Zuhörer zu belasten, weil er ihn um Rat und Hilfe bittet. Im Gegenteil wird durch die von ihm vollführte ästhetische Verarbeitung von Persönlichem sein Bedürfnis nach Anerkennung, ebenso wie jenes nach Wachstum befriedigt.
Drittens ist das Kommunizieren von Gefühlen und Gedanken über eine verschlüsselte Symbolsprache ein wesentlich sanfterer Einstieg zur Mitteilung als über den direkten Weg. Poesie ist nur für jene verständlich, die sich die Mühe machen, durch Empathie Bedeutungszusammenhänge innerhalb des Werkes herzustellen. Dadurch ist auch gewährleistet, dass der Adressat ein Mindestmaß an echtem Interesse dafür verspürt, denn das Verstehen eines Gedichts kann schwer geheuchelt werden. Außerdem kann der Verfasser über die Reaktion, die sein Werk beim Adressaten hervorruft, erkennen, ob eine Atmosphäre des Vertrauens besteht, die ihm erlaubt, persönliche Beziehungen zum Inhalt des Werkes zu offenbaren. Der Ängstliche hat somit die Möglichkeit, das Vorhandensein von grundsätzlicher Akzeptanz und Anerkennung zu überprüfen.
Des Weiteren stellt das Verfassen von Poesie für den Poeten selbst eine außerordentliche Möglichkeit dar, sein Wachstumsbedürfnis zu befriedigen. So kann er sich über unorthodoxe Symbolverwendung ausdrücken und in der Welt manifestieren, indem er sich in sie einbringt und dadurch gleichzeitig verändert. Außerdem nähert er sich durch das Verwenden einer erweiterten Symbolsprache der Sprache seines Unterbewusstseins an und hat so die Möglichkeit, sich selbst besser kennen zu lernen und zu entfalten. Das sich Mitteilen in Metaphern könnte entweder als eine bewusste Form der Traumarbeit (Freud) definiert werden oder aber als eine direkter Weg, Inhalte des Unterbewussten über Worte auszudrücken. Eine Textanalyse ist in diesem Sinne mit einer Psychoanalyse vergleichbar [vgl. Freud, Traumsymbole in Märchen!?].
Wie beim Traum auch, besteht natürlich bei der Poesie die Gefahr, sie nicht oder falsch zu verstehen. Ist der Verfasser jedoch wie im vorliegenden Fall bei der Entschlüsselung anwesend, kann er erstens selbst ihm bis dahin noch unbewusste Inhalte seines Werkes erkennen und zweitens das Verständlichwerden für die Adressaten bis zu einem gewissen, von ihm gewählten Punkt steuern und korrigieren.
Im weiteren Verlauf des Projektes erreichten die Teilnehmer mit Hilfe von Poesie eine Ebene der Offenheit, der ihnen erlaubte, sich 'direkt in Metaphern' über ihre Angst mitzuteilen. Die entstandene Atmosphäre des Vertrauens ermöglichte ihnen bis zu einem gewissen Grad die Befriedigung von Defizit- und Wachstumsbedürfnissen und trug somit wesentlich zum Abbau von sozialer Angst bei.
"Closed Eyes
That see
Silent voices
That hear
That hear the tear
That know the fear" (Studentin CC, nach Buck: 62)

Die potentielle Nützlichkeit von Poesie beim Abbau von sozialer Angst in der Schule ist enorm. Allerdings ist es eine lange Tradition, sich sowohl im Muttersprach- als auch im Fremdsprachenunterricht ausschließlich mit der Analyse von Werken anerkannter Literaten zu beschäftigen. Dies stellt eine theoretische Art und Weise der Wissensvermittlung dar, wie sie zwar im Kunst-, Musik-, oder auch im Sportunterricht möglich wäre, aber dort einstimmig als absurd abgelehnt wird. Im Sprachunterricht ist es nicht weniger absurd, doch wird dort aus bestimmten Gründen auf kreative Produktion verzichtet, die schwer von der Humanistischen Psychologie vertreten werden können: Gewohnheit, Einfachheit oder die Notwendigkeit, erbrachte Leistung über pseudo-objektive Kategorien zu bewerten. Diese Umstände verhindern nicht nur die Anwendung von Poesie zum Abbau von Angst, sondern sind gerade im Gegenteil für die Entstehung von Angst verantwortlich.

5. Zusammenfassung

Ziel dieser Arbeit war das Vertrautmachen mit einigen Grundsätzen der Humanistischen Psychologie und deren Nützlichkeit für den Abbau von Angst in der Schule. Im einführenden Kapitel sollte deutlich gemacht werden, dass Angst als notwendiger Bestandteil der menschlichen Existenz angesehen wird und eng mit der von der Humanistischen Psychologie angestrebten Freiheit verbunden ist. Das Ziel des Abbaus von Schulangst gilt darum hauptsächlich dem Vermeiden von künstlich erzeugter Angst und dem Unterstützen von Schülern bei der Lebensaufgabe, Angst bewusst zu bewältigen.
Die anschließend vorgestellte Erziehungs- und Bildungstheorie von Robert Mogar verwendet wichtige Aspekte der Humanistischen Psychologie und eignet sich gut zur Untersuchung praktischer Anwendungen in der Schule. Mit ihrer Hilfe wurde zunächst die Lazarus-Stressmodell-Adaption von Jacobs genauer erläutert, um danach die Anwendung und Wirkung der Prinzipien von Carl Rogers in Strittmatters Projekt zu untersuchen. Die Ergebnisse haben gezeigt, dass es sich hierbei um wichtige und wirksame Verhaltensrichtlinien für die Lehrerperson handelt.
Abschließend wurde ein außerschulisches Projekt aus Long Island, NY vorgestellt, bei dem soziale Angst erfolgreich durch das Kommunizieren über kreativ verwendetet Bildsprache abgebaut wurde. Wiederum mit Hilfe von Mogars und Jacobs‘ Theorie wurden Wirkungsmechanismen aufgezeigt, die verdeutlichen, wie vielseitig Poesie etwas zum Abbau von Angst und zum Entwickeln eines gesunden Selbst beitragen kann. Auch wenn dieses Projekt nicht innerhalb des schulischen Rahmens stattgefunden, wäre es erstrebenswert diese oder ähnliche Methoden auch dort zur Befriedigung von Defizitmotivation und zur Förderung von Wachstumsmotivation anzuwenden. Genannte Gründe, die dabei dagegen sprechen sollten reformatorisch oder auch in Eigeninitiative überwunden werden.
Damit verbunden ist ein wichtiges Thema der humanistisch-psychologischen Pädagogik, dass hier leider nicht behandelt werden konnte, da es den Rahmen dieser Arbeit überschreiten würde. Die freie Schule "Summerhill", 1921 von Alexander Neill in England gegründet, kann als eine Umsetzung der humanistisch-psychologischen Ideale angesehen werden, die dem von Maslow beschriebenen Eupsychia so nahe kommt wie wohl kein anderes Projekt der Welt. Eine Beschäftigung damit als Fortsetzung dieser Arbeit ist angestrebt.

Literaturverzeichnis:

Bernstein, Emmanuel 1968. "Summerhill: A Follow-up Study of its Students", in: Journal of Humanistic Psychology 8: 123-136.
Buck, Lucien A. & Aaron Kramer 1974. "Poetry as a Means of Group Facilitation", in Journal of Humanistic Psychology 14: 57-71.
Claßen, Johannes (Hrsg.) 1987. Erich Fromm und die Pädagogik. Gesellschafts-Charakter und Erziehung. Weinheim: Beltz.
Fromm, Erich 1956. Die Kunst des Liebens. Frankfurt: Ullstein.
Hinte, Wolfgang 1990. Non-direktive Pädagogik. Eine Einführung in die Grundlagen und Praxis des selbstbestimmten Lernens. Wiesbaden: DUV.
Krapf, Bruno 1997. Aufbruch zu einer neuen Lernkultur: Erhebungen, Experimente, Analysen und Berichte zu pädagogischen Denkfiguren. Bern: Haupt.
Krone, Wolfgang 1992². Zur Erziehung des Erziehers. Behaviourismus - Psychoanalyse - Humanistische Psychologie. Frankfurt: Peter Lang.
McCarthy, Declan 2007. Inspection Report. Independent School. Summerhill School. London: OFSTED.
Lazarus, Richard S. 1966. Psychological Stress and the Coping Process. New York: MacGraw Hill.
Mogar, Robert E. 1969. "Towards a Psychological Theory of Education", in: Journal of Humanistic Psychology 9: 17-52.
Quitmann, Helmut 1991². Humanistische Psychologie. Zentrale Konzepte und philsophischer Hintergrund. Göttingen: Hogrefe.
Schnorr, Angela (Hrsg.) 1993. Handwörterbuch der Angewandten Psychologie. Die Angewandte Psychologie in Schlüsselbegriffen. Bonn: Dt. Psychologen-Verl.
Strittmatter, Peter 1997². Schulangstreduktion. Abbau von Angst in schulischen Leistungssituationen. Berlin: Luchterhand.
Völker, Ulrich (Hrsg.) 1980. Humanistische Psychologie, Weinheim: Beltz.
Völker, Ulrich 1980. "Grundlagen der Humanistischen Psychologie", in: ders. (Hrsg.) Humanistische Psychologie, Weinheim: Beltz, 13-38.
Wenzel, Wolfram 1987. "Erich Fromm - Pädagoge zwischen Angst und Freiheit", in: Johannes Claßen (Hrsg.) Erich Fromm und die Pädagogik. Gesellschafts-Charakter und Erziehung, Weinheim: Beltz, 173-180.

Machtbeschränkung durch geschlechterspezifische Tugend vermittelt in Jungen- und Mädchenschulen

Hausarbeit für den "Erziehungswissenschaftlichen Teilstudiengang" von Lehramt, Staatsexamen, Leistungsnachweis Grundstudium, 15 Seiten Fließtext, Universität Potsdam, Seminar: Geschlechterbildung und Erziehung in der frühen Neuzeit, SS 2006, Professor Juliane Jacobi


Machtbeschränkung durch geschlechterspezifische Tugend vermittelt in Jungen- und Mädchenschulen
Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis 1
1. Einleitung - Konzept von Macht 2
2. Fremdzwang, Selbstzwang, Zivilität 4
3. Anerziehung von Andacht und Sitten 5
3.1. Jungenerziehung allgemein 6
3.2. ratio studiorum 8
3.3. Methoden der Ursulinen 10
3.4. Äußere Einschränkung, innere Praxis 12
3.5. Nicht-formalisierte Erziehung für Mädchen 12
4. Schlussteil - Beschränkung durch Rollen 13
Literaturverzeichnis 16


1. Einleitung - Konzept von Macht

"Hinreichend oft ist an Elias' Darstellung moniert worden, daß er (wie zu seiner Zeit üblich) der Geschlechtergeschichte zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Deshalb kann hier auf eine weitere Auseinandersetzung mit Elias verzichtet werden. Im Zentrum steht die Frage, welches Geschlecht Macht hat über das andere Geschlecht." (Schnell: S. 310-311) Diese Aussage lässt sich in der Einleitung von Schnells Text "Macht im Dunkeln" in dem von ihm herausgegebenen Buch Zivilisationsprozesse finden. Nimmt man die Semantik der Frage 'Welches Geschlecht hat Macht über das andere Geschlecht?' genau, scheint ausgeschlossen, dass beide Geschlechter gleichzeitig Macht über das andere ausüben.
Im gleichen Buch schreibt Heide Wunder als ersten Satz ihres Beitrags "Geschlechtsspezifische Erziehung in der Frühen Neuzeit": "Für Norbert Elias ist die Beziehung der Geschlechter ein wichtiger Indikator im langfristigen 'Prozess der Zivilisation'." (Wunder S. 239). Sie bezieht sich dabei auf die Beobachtung Elias' der Ehen des hohen Adels, in denen er die Gleichheit der Geschlechter angelegt sieht. Die Durchsetzung der Monogamie ist für ihn ein Zeichen für die Zunahme der sozialen Macht der Frauen. Auch für Schnell sind die Machtstrukturen innerhalb des ehelichen Bündnisses von besonderem Interesse. Er vermutet, dass im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (Ehe-)Frauen wesentlich mehr Macht auf (Ehe-)Männer ausübten als im Allgemeinen angenommen wird. Vorbeugend weist er jedoch am Anfang seines Beitrages darauf hin, dass der schriftliche Diskurs, den er untersucht "freilich […] nicht für die Realität gehalten werden" darf (Schnell: S. 312), um diese Einschränkung direkt anschließend mit den Worten "scheint eine gewisse Affinität zwischen Befürchtung und Wirklichkeit nicht ausgeschlossen" (Schnell: S. 312) zu relativieren.
Während es Schnell als erwiesen ansieht, dass Männer das öffentliche Leben dominieren, argumentiert er dafür, dass sich Frauen einer subtileren Form von Macht bedienen, um in emotionalen Beziehungen Einfluss auf ihre Mitmenschen zu nehmen. Er spricht hier von "Nischen informeller Macht bzw. Herrschaft" (Schnell S. 312), die sich in Worten, Gesten, Körperhaltungen, aber auch in Distanz, Schweigen und Abweisen äußert. Diese Art und Weise Macht auszuüben, scheint schwer zu erforschen aus folgenden Gründen: Erstens ist der öffentliche und schriftliche Diskurs der Frühen Neuzeit vom männlichen Geschlecht beherrscht. Somit sind Quellen, die Machtausübung von Frauen belegen, relativ selten. Zweitens handelt es sich gemäß Schnell bei den Strategien des weiblichen Geschlechts um derart subtile, dass die Möglichkeiten, sie begrifflich zu definieren begrenzt scheinen. Geht man davon aus, dass Sprache eher geeignet ist, um auf einer rationalen Ebene zu kommunizieren und zu konstruieren und dass ihre Entwicklung eher unter dem Einfluss des männlichen Geschlechts steht (vgl. Spender), wird angedeutet, wie begrenzt unser Bewusstsein und Wissen über die Ausübung von Macht auf emotionaler und unterbewusster Ebene sein kann.
Unter dem Konzept Macht kann im weitesten Sinne die 'Fähigkeit zu handeln' verstanden werden. Besonders deutlich zeigt jenen 'neutralen' Aspekt dieses (im Deutschen häufig negativ konnotierten) Begriffs seine Entsprechung in der französischen Sprache: le pouvoir bedeutet einerseits 'Macht', andererseits aber auch 'Können', 'Fähigkeit', 'Kapazität', welches den etymologischen Ursprung darstellt. Wird der Begriff Macht im Deutschen also prototypisch verwendet, um damit ihre Ausübung auf andere zu betonen, wie z.B. in der Frage, die im Zentrum von Schnells Untersuchungen steht, ist es vor allem die Bedeutung des Begriffs Ohnmacht (im weiteren Sinne), die erkennen lässt, dass ohne Macht weder Sein, noch Handeln, noch Entwicklung möglich ist. Macht steht somit wie im Französischen für die Fähigkeit zu Handeln und ist somit Grundvoraussetzung für persönliche Freiheit und freie Individualgenese. Sicherlich hat die Ausweitung der persönlichen Freiheit einer Person bzw. einer Gruppe fast immer die Einschränkung der Freiheit einer anderen Person bzw. Gruppe zur Folge. Dennoch bedeutet dies nicht automatisch, dass die Benachteiligung der anderen die Hauptabsicht der mächtigen bzw. 'mit Handlungsmöglichkeiten ausgestatteten' Person ist.
Somit könnte die Frage nach den Machtverhältnissen zwischen den Geschlechtern in der Frühen Neuzeit an folgender Konsequenz beobachtet werden: Hatte eher ein Individuum des weiblichen Geschlechts oder ein Individuum des männlichen Geschlechts mehr Möglichkeiten zu einem Leben und einer Entwicklung nach freiem Willen?
Im ersten Teil der Arbeit werde ich untersuchen, wie bestimmte Kontrollmechanismen in den Schulen als institutionalisierte Einrichtungen der Gesellschaft vermittelt werden. Zunächst beziehe ich mich dabei auf Jungenerziehung im Allgemeinen, um später mit der Praxis, resultierend aus der ratio studiorum des Jesuitenordens ein konkretes Beispiel darzustellen. Im zweiten Teil geht es um Verhaltenskontrolle von Mädchen, wie sie von einer öffentlichen Meinung gewünscht wurde und wie sie tatsächlich praktiziert wurde. Dabei gehe ich einerseits auf die Lehrtätigkeit katholischer Frauenorden, insbesondere der Ursulinen ein, andererseits auf Möglichkeiten der nicht-formalisierten Bildung. Abschließend möchte ich dafür argumentieren, dass Frauen und Männer gleichermaßen begrenzt durch ihre gesellschaftlichen Rollen waren und dass sich dies für beide in jeweils anderer Form äußerte.

2. Fremdzwang, Selbstzwang, Zivilität

Der 'Prozess der Zivilisation' kann als eine generationsübergreifende Formung der Triebkontrolle zunächst durch Fremd-, dann durch Selbstzwänge verstanden werden. Die Triebkontrolle in Form von Normen und Werten dient ursprünglich der so wenig wie nötigen Einschränkung der Freiheit des einzelnen zur Sicherung einer so groß wie möglichen Freiheit der anderen. Damit ist sie essentieller Faktor für das Funktionieren jeglicher Gesellschaft . Der Übergang von Fremd- zu Selbstzwang vollzieht sich im Wesentlichen während der Kindheits- und Jugendphase, weswegen dieser besondere Bedeutung zukommt. Während dieser Phase wird das Individuum mit den Normen und Werten der Kultur konfrontiert, die dessen Umwelt bildet. Durch den Prozess der Erziehung wurde versucht, diese zunächst äußeren Werte zu den eigenen und inneren Werten des Individuums zu machen. Teil dieser Werte sind auch die gesellschaftlichen Geschlechterrollen.
Während der Zeit des Humanismus, vor allem nach dem Erscheinen des sehr einflussreichen Werkes De civilitate morum puerilium von Erasmus von Rotterdam im Jahre 1530, wurde versucht, "die inneren Dispositionen zu verändern und zu bessern, indem man ihre körperlichen Manifestationen entsprechend korrigiert" (Revel: S. 176). Es herrschte der Glauben vor, dass die äußere Manifestation als Symptom einer inneren Disposition ebenso eine Rückwirkung auf das Innere haben würde, wenn man das Äußere nur entsprechend ausführt. Darum legte man zunächst mehr Wert auf ein wünschenswertes Verhalten, welches mit ausreichender Ausübung den dafür stehenden Charakter formen sollte.
Die Werte und Normen der Gesellschaft, als erwünschenswertes Verhalten verlangt und sanktioniert, bildeten im Laufe des Erwachsenwerdens ein Über-Ich, welches als verinnerlichter Fremdzwang einem zum größten Teil unbewussten Selbstzwang entsprach. Dadurch, dass das erwünschte Verhalten durch Konditionierung mit Hilfe von Strafe und Belohnung und teilweise entfernt und losgelöst vom ursprünglichen Sinn anerzogen und ausgeübt wurde, verfiel es vor allem gegen Ende der Frühen Neuzeit zu einem regelrechten Klischee, welches vermehrt Ziel von Karikaturen der sozialen und intellektuellen Oberschicht, des aufstrebenden Bildungsbürgertums wurde (vgl. Revel: S. 205 ff.). mores und virtus waren zur Zucht verkommen und hatten einen großen Teil ihres ursprünglichen Sinns eingebüßt. Während sie am Anfang der Frühen Neuzeit in einer Phase der zunehmenden Verstädterung, wachsenden Mobilität und Annäherung halfen, als Selbstdisziplin eines jeden einzelnen die Distanz zum anderen und damit die eigene Freiheit und die des Gegenübers zu wahren, wirkten sie nur noch als oberflächliche und sinnentleerte Verhaltensregeln, als Einschränkung und Kontrollmechanismus für die Schafe des Herrn.

3. Anerziehung von Andacht und Sitten

"Das Hauptwerk des deutsch-jüdischen Soziologen Norbert Elias, 'Über den Prozess der Zivilisation', schenkt schulisch-universitären Bildungsprozessen als Motor der Verhöflichung nur beiläufig Aufmerksamkeit." (Puff: S. 255).
Derweil wurde den Schulen in der Frühen Neuzeit eine große Verantwortung für die Vermittlung der humanistischen und christlichen Werte zugesprochen. Als institutionalisierte Einrichtung zwischen dem Privaten der Familie und dem Öffentlichen der Gesellschaft, sorgten sie dafür, dass die Heranwachsenden in erwünschter Manier auf ihre zukünftige Funktion als fromme Bürger in der christlichen Gesellschaft vorbereitet wurden. Über die soziale Zusammensetzung der Schülerinnen und Schüler gibt es wenig genaue Angaben, allerdings ist davon auszugehen, dass ein großer Teil von den höheren Schichten gestellt wurde. Spendengelder der Städte oder wohlhabenden Bürgern stellten aber sicher, dass der Besuch des Unterrichts meist für alle kostenlos war, wodurch auch einigen Vertretern aus einkommensschwachen Familien der Schulbesuch und damit die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg ermöglicht wurde. Frauen waren, vor allem am Anfang der Frühen Neuzeit, von formalisierter lateinischer Bildung ausgeschlossen. Das allgemeine Frauenbild orientierte sich stark am Alten Testament und der damit verbunden Erbsündentheorie. Demnach war es Eva, die Adam verführt hatte, von der verbotenen Frucht des Wissens zu essen, und somit sind es sie und ihre Töchter, die die Hauptschuld der Erbsünde zu tragen haben. Während Pädagogen der Aufklärung ausdrücklich darauf hinweisen, dass auch Frauen als "die Hälfte des menschlichen Geschlechts, durch Christi Blut erlöst und zum ewigen Leben bestimmt" (Fénelon: S. 10) sind, gehen selbst diese davon aus: "Der weibliche Geist ist in der Regel schwächer und neugieriger als der der Männer." (Fénelon: S. 9).
Ebenso herrschte aufgrund des Glaubens an die Erbsünde die Überzeugung vor, dass "das Kind von Natur aus böse und dem Übel zugeneigt sei." (Revel: S. 179). Einzig die Gnade Gottes könne den Menschen davon erlösen und eine strenge Erziehung müsse den Weg dafür bereiten. Überließe man die Entwicklung des Kindes dem freien Lauf, würde es zur Bestie verrohen.

3.1. Jungenerziehung allgemein
Für die Jungen, die im Alter von 7 Jahren von ihrer Mutter oder von ihrer Amme getrennt wurden und somit auch so gut wie jeden anderen Kontakt zum weiblichen Geschlecht verloren, führte der Weg der Erlösung über das Studium der antiken Sprachen und Texte. Puff (S. 258) spricht hier von der damals gängigen Formel literae et mores, die sich in abgewandelter Form in jeder damals befolgten Schulordnung wieder finden lässt. mores, virtus, pietas oder einfach glauben waren demnach so gut wie nur über das Studium der literae zu erlangen. Daraus lässt sich auch erklären, dass es für mores kein eigenes Studienfach gab.
Somit war es durchaus möglich die literae zu studieren und dabei das Streben nach Tugend aus den Augen zu verlieren . Tatsächlich war dies eine Hauptbefürchtung der angesehenen Gelehrten ("Nichts ist verderblicher als ein gelehrter und dabei schlechter Mensch." (zit. nach Puff: S. 259)), und man war sich einig, dass das reine Sprachenstudium nicht ausreichte um zum angestrebten Ziel zu gelangen. Hauptmethode diesem Misserfolg entgegen zu wirken war die Zucht, mit der zunächst gute geberde über disciplina als Fremdzwang erreicht werden sollte. Daraus sollte sich dann im Laufe der Zeit und mit tieferem Verständnis der studierten Texte virtus entwickeln, was dem Selbstzwang entsprach und Zeichen von wahrer Tugend war. Erreicht wurde diese Konditionierung durch "die Prinzipien von ständiger Überwachung, Anzeigepflicht und körperlichen Strafen" (Kalthoff: S. 76).
Ein weiterer wichtiger Faktor war der Prozess der imitatio, der Nachahmung. Die Vorstellung, die man von der Funktionsweise des Geistes und des Gedächtnisses des Menschen hatte, stellte man mit dem Wachsmetapher (vgl. Puff: S. 263) dar. Demnach würden frühere Eindrücke eines Menschen die tiefsten Spuren hinterlassen, während spätere immer oberflächlichere Wirkung zeigen würden. Darum wurde bereits vom Moment der Geburt an viel Wert auf den guten Umgang gelegt, welcher eine positive Wirkung auf die mores der Schüler haben sollte. Ein schlechter Umgang konnte dagegen irreparable Schäden verursachen. Amme und Tutor mussten sorgfältig ausgewählt werden und auch aus diesem Grund wurde ab dem 7. Lebensjahr der Kontakt zum 'schwachen Geschlecht' vermieden.
Am wichtigsten war die Vorbildfunktion des Lehrers. Es war sicher zu gehen, dass er selbst ein Meister der Tugend war, denn nur wer sich selbst kontrollieren konnte, hatte die Qualifikation, andere zu kontrollieren. Im Laufe der Zeit, mit einer Zunahme an positiven und negativen Erfahrungen, sah man eine größere Notwendigkeit, Richtlinien für ein vorbildliches Lehrerverhalten zu erstellen und es dadurch von außen kontrollierbar zu machen. Sie wurden ebenso in den Schulordnungen festgehalten, wie allgemeine Verhaltensmaßregeln für die Schüler (Kalthoff: S. 68).
Die Schulordnungen, die großteils ab Mitte des 16. Jahrhunderts entstehen, sind der literae et mores Programmatik folgend zweigeteilt. Während sich der erste Teil die Einzelheiten der Methodik und Didaktik vorgibt, enthält der zweite, meist mit "Zucht" überschriebene, Teil die Schulgesetze und gibt genaue Angaben über Kleidung, Tischsitten und Sprachverhalten. Diese Vorschriften waren nicht nur intern für die Schule, sondern auch für die Kirche, die Familie und die Öffentlichkeit gültig. Da die Schule meist in enger Verbindung zur Stadt gesehen wurde, unter anderem durch deren Trägerschaft, stand der Ruf des Magistrats auf dem Spiel, der über die Bildung in seine Nachfolger investierte.

3.2. ratio studiorum
Eine besondere und sehr bedeutende Schulordnung ist die ratio studiorum von 1599. Die meisten der Schulen der Frühen Neuzeit hatten eine eigene lokale Schulordnung. Zwar wurden solche von bedeutenden Schulen oft wortgetreu für neu gegründete übernommen, dennoch bestand die Möglichkeit zur Abänderung, um den Text an die vorhandenen Gegebenheiten anzupassen. Die ratio studiorum jedoch war die transnational geltende Ordnung der "Gesellschaft Jesu". Der 1534 von Ignatius von Loyola gegründete Jesuitenorden hatte sich rasch seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts im romanischen Westeuropa und in Deutschland verbreitet. Ursprünglich nicht als öffentlicher Schulorden geplant, erwies er sich als wertvolles Instrument der katholischen Kirche im Unternehmen der Gegenreformation. Durch das Angebot von kostenloser Bildung, die für den sozialen Aufstieg nötig war, eröffnete sich ein fruchtbarer Zugang zur Bevölkerung und so die Möglichkeit die katholische Religion zu stärken. Der Erfolg der Jesuiten gründete sich einerseits auf das ausreichende Vorhandensein von Bildungsbedarf, aber andererseits auf ihre gute Ausstattung und auch ihre Fähigkeit zur Anpassung an die lokalen Gegebenheiten. Dies war sogar als Grundsatz in den "Konstitutionen" des Ordens festgelegt worden (Kalthoff: S. 67).
Umso erstaunlicher ist der Erfolg mit dem sich die ratio studiorum über 300 Jahre in den verschiedenen Kulturen bewährt hat. Seit 1585 war sie entworfen, erprobt, kritisiert, begutachtet und nach 14 Jahren letztendlich ratifiziert worden; und auch wenn sie während ihres Bestehens ständig durch Kommentare ergänzt und erweitert wurde, kam es erst 1832 zu einer grundsätzlichen Abänderung (Kalthoff: S. 67). Dies belegt, dass diese Schulordnung trotz ihrer sehr detaillierten und normierenden Vorgaben auf sehr allgemeingültigen Prinzipien der damaligen Zeit basierte. Verbindend wirkten sicherlich einerseits die religiösen, andererseits aber auch die westlich-kulturellen Werte die der Erziehung zu Grunde gelegt waren.
Da man davon ausging, dass die angestrebten Werte nur durch das Studium der richtigen literae zu erreichen war, konnte man nicht auf die Lektüre weltlicher Werke verzichten. Hauptsächlich wurden römische, als klassisch eingeschätzte Autoren gelesen, aber auch griechische, wobei darauf geachtet wurde, dass störende Sichtweisen durch Zensur unbekannt blieben (Kalthoff: S.70). Als Konsequenz der gemeinsamen kulturellen Wurzel der betroffen Nationen sind behandelter Stoff und die lateinische Sprache als allgegenwärtiges Kommunikationsmedium im Unterricht ein bedeutender Faktor für die territorial übergreifende Anwendbarkeit der jesuitischen Erziehungsarbeit . Bei der Textarbeit wurde dafür gesorgt, dass die Quantität des zu erfassenden Stoffes nicht die kognitive Kapazität der Kinder überforderte. Zwar wurden die behandelten Werke auswendig gelernt, doch vorher sollte ein tieferes Verständnis Ergebnis von regelmäßigem Abfragen sein. "Die 'positiven Kenntnisse' blieben rudimentär" (Kalthoff: S. 70), Ziel war stattdessen die Verinnerlichung der übermittelten Inhalte und der 'erwünschten' Textintention. Regelmäßiges Rezipieren und Reproduzieren von Bekanntem machte das fremde Wissen zu eigener Überzeugung und stellte die Einprägung der sich daraus ergebenden mores sicher.
Über ein ausdifferenziertes System von Wettkämpfen, Aufführungen und Preisen und durch ein komplex strukturiert erschaffenes Sozialgefüge, gelang es, die Jungen zu motivieren und sie gleichzeitig mit gewissen gesellschaftlichen Wirkungsmechanismen vertraut zu machen.
3.3. Methoden der Ursulinen
Zum Lehrorden der Jesuiten gab es verschiedene weibliche Entsprechungen, von denen die bedeutendsten der Ursulinenorden, die Notre-Dame-Schwestern und die Englischen Fräulein waren. Obwohl diese Orden alle unabhängig voneinander gegründet worden waren, bestanden weitreichende Gemeinsamkeiten untereinander. "Sie verstanden sich als weibliche Entsprechung zu den Jesuiten und sahen es als ihre Aufgabe an, 'das Gleiche', was die Jesuiten für Knaben taten, für Mädchen zu tun." (Conrad²: S. 253). Sie trugen also Sorge für die Elementar- und für die höhere Bildung, die sie für die Mädchen für angemessen hielten. Dabei unterschieden sich sie sich z.B. in ihrer Vorstellung von einer 'gleichen' Bildung. Weil die Englischen Fräulein beispielsweise eine radikalere Öffnung der Bildung für Mädchen forderten, erhielten sie 1631 von Papst Urban VIII keine Erlaubnis, einen jesuitischen Frauenorden zu gründen und mussten ihre Häuser auflösen. Die Ursulinen hingegen, die anscheinend eine optimale Gratwanderung zwischen Loyalität zur katholischen Kirche und Fortschrittsgedanken in Richtung Gleichberechtigung meisterten, erhielten weitestgehend Unterstützung oder zumindest Toleranz aus Rom (Conrad²: 256).
Die Ursulinen wurden 1535, ein Jahr nach den Jesuiten, in Norditalien von Angela Merici gegründet. Ähnlich wie der Männerorden waren sie vor allem in Frankreich, Italien und später auch im deutschsprachigen Raum verbreitet. Obwohl sie ursprünglich unabhängig von den Jesuiten entstanden waren, sahen sie sich zunehmend als deren weibliche Entsprechung und machten auch der Öffentlichkeit kenntlich, dass sie sich an ihnen orientierten. Einerseits beschrieben sie ihre Schulen als "schier den Jesuiten gleich"; andererseits differenzierten sie wohlweißlich, indem sie ankündigten, für "die kleinen Mädchen zu unterrichten und für die Angehörigen ihres Geschlechtes all das zu tun, was die Jesuiten durch den Unterricht der jungen Männer taten" (zitiert nach Conrad²: S. 255). Demnach sollten die bestehenden Rollenverhältnisse nicht verändert werden.
Der Unterrichtsstoff war entsprechend ausgelegt. Zwar schien es eine solch übergreifende Schulordnung wie die ratio studiorum nicht zu geben, allerdings wurden Ordnungen von etablierten Schulen von neu gegründeten übernommen, wie beispielsweise die Pariser Ordnung von 1652, die auch in Erfurt Anwendung fand (Conrad¹: S. 23). Vermittelt wurde im Elementarunterricht die Religion über den Katechismus, Lesen in der Muttersprache, Schreiben, Rechnen und diverse Handarbeiten, später auch höhere Bildung, die für das weibliche Geschlecht angemessen schien. Anfangs war noch Wert auf die Vermittlung von Latein gelegt worden, später lehrte man lebendige Sprachen wie Französisch, Englisch, teilweise auch Italienisch. Wenn also für die Jungen galt, dass man mores nicht ohne gründliches Studium der literae verinnerlichen kann, konnte dies für die Mädchen nicht zutreffen. Im Gegenteil war es, einer öffentlichen Meinung zufolge, viel eher wahrscheinlich, dass zuviel höhere Bildung Frauen zum "viel gefürchtete[n] Produkt von Erziehungsbemühungen" machen würde, nämlich dem gelehrten, aber schlechten Menschen (Puff: S. 259). So urteilt beispielsweise ein Theologiestudent des Jahres 1794/95 über eine gebildete Frau, die auch in anderen Fähigkeiten nicht dem geläufigen Ideal einer Frau entsprach, sie "soll fast bis zur Thörin herabgesunken seyn". (zitiert nach Wunder: S. 241).
An Stelle der Tugend durch Bildung erwartete man von den Mädchen stattdessen eine Frömmigkeit und Andacht oder pietas, die sich gemäß der katholische Obrigkeit unter anderem durch das Auswendiglernen des Katechismus, jedoch ohne ihn zu interpretieren, und das Abschreiben vorformulierter Gebete und geistlicher Texte einstellen sollte (Conrad²: S. 261). Die Ursulinen achteten dabei auf eine Haltung, "die erfüllt ist von Milde und Liebe, von Klugheit, Zurückhaltung und mütterlicher Fürsorge, die voll Güte ist und weder zu zudringlich noch rechthaberisch" (Conrad¹: S 24), um "die Pensionärinnen zur Frömmigkeit und Andacht zu führen, sie in den christlichen Tugenden [zu] unterrichten und zum mentalen Gebet und zu inneren Tugendhandlungen [zu] bringen, soviel sie dazu fähig sind" (Conrad¹: S. 25). Die Schreiber der ratio studiorum hätten solche Methoden sicher nicht für die richtigen gehalten, um die Jungen auf den richtigen Pfad der Erlösung zu führen. Die Ursulinen befanden sie als angemessen für das 'schwache Geschlecht' und erhielten Zustimmung von der öffentlichen Meinung, die ihre Lehrtätigkeit für gut befand.


3.4. Äußere Einschränkung, innere Praxis
Zwei große Schwächen, die die Frömmigkeit gefährdeten, und vor denen deshalb männliche Mädchenpädagogen warnten, waren die übertriebene Neugier und die Eitelkeit. Beides konnte durch Bildung geschürt, befriedigt oder verstärkt werden, weshalb diese nur wohl dosiert und ausgewählt zugeteilt werden durfte. Die Aussage Fénelons (S. 77) "Der Unterricht der Frauen muß wie der der Männer sich auf die Erlernung dessen beschränken, was zu ihrem Berufe gehört.", impliziert, dass für die Jungen ähnliches galt wie für die Mädchen und spricht für die Intention der Gleichberechtigung durch Fénelon im damaligen gesellschaftlichen Rahmen. Seine intensive Auseinandersetzung mit der Mädchenerziehung, belegt seine Absicht, dem weiblichen Geschlecht zu seinem Recht zu verhelfen. Bei diesem Recht handelte es sich um ein beschränktes; doch es wurde zu jener Zeit sowohl vom männlichen als auch vom weiblichen Diskurs als ein solches definiert. Die Gründerin der Englischen Fräulein Mary Ward beispielsweise, die ansonsten alle anderen Rechte für die Frauen einforderte, war der Meinung: "In der Ehe müsse die Frau sich dem Mann unterordnen, und in der Kirche stehe es ihr nicht zu, Leitungsfunktionen zu übernehmen […]" (Conrad²: S. 258). Damit konkretisiert sie die Einschränkung ihrer göttlichen Eingebung, sie solle den Mädchen das "Gleiche" lehren wie die Jesuiten den Jungen, "einzig das ausgenommen, was Gott durch die Verschiedenheit des Geschlechts verboten hatte" (zitiert nach Conrad²: S. 255). Andererseits bemerkt Conrad (S. 262) die große Offenheit der weiblichen Lehrorden in Bezug auf die Ausbildung: "Keine Lektüre wurde ausdrücklich verboten, kein Lernstoff oder Schulfach als für Mädchen unpassend ausgeschlossen." Denkt man dabei daran, dass in den collèges der Jesuiten nur Werke bestimmter Autoren und diese in zensierter Form gelesen wurden, könnte argumentiert werden, dass Schülerinnen, unter einem gewissen Aspekt betrachtet, mehr Freiheit hatten als die Zöglinge der Jesuiten.

3.5. Nicht-formalisierte Erziehung für Mädchen
Heide Wunder gibt in ihrem bereits erwähnten Aufsatz Beispiele von Frauen, die Ende des 18. Jahrhunderts die Freiheit besaßen, sich nach relativ freiem Willen auszubilden. Es handelte sich hierbei um Frauen, die das Glück hatten einer sozialen und intellektuellen Oberschicht anzugehören, und gleichzeitig ausreichend Offenheit und Mut besaßen die gängigen Rollenverhältnisse in Frage zu stellen. Wunder fügt außerdem hinzu, dass sie "keineswegs 'Ausnahmen ihres Geschlechts' darstellten" und dass scheinbar "die häusliche Bildung der Töchter in Professoren-, Akademiker-, und städtischen Pfarrhaushalten durchaus üblich war." (Wunder: S. 244).
Eine frühere und subtilere Form nicht-formalisierter Erziehung stellen die 'Erziehungsbriefe' von Jacobe von der Asseburg aus dem 16. Jahrhundert dar. Hierin 'unterrichtet' die Großmutter ihre mutterlosen Enkelinnen vor allem im Umgang mit Vertretern des männlichen Geschlechts unter anderem mit dem Ziel "Einfluss auf seinen Entscheidungen zu gewinnen" (Wunder: S. 252). Während Männer wie Fénelon also öffentlich Anweisungen darüber gaben, wie Mädchen zu erziehen wären, wurde Wissen über die Einflussnahme auf die männliche Entwicklung unter Frauen innerhalb der Familie im Privaten weitergegeben. Solche Ratschläge und Hinweise, die hier durch einen eher seltenen Umstand schriftlich festgehalten wurden und heute noch erhalten sind, könnten zum Standard mündlicher Vermittlung zwischen Mutter und Tochter gehört haben. Man kann vermuten, dass sie den Vorstellungen Fénelons durchaus widersprachen. Die 'Erziehungsbriefe' von Jacobe von Asseburg könnten somit einen Teil des Dunklen erhellen, von dem Schnell spricht, wenn er Frauen eine undokumentierte Form von Macht zuspricht.

8. Schlussteil - Beschränkung durch Rollen

Bei den Methoden, derer man sich in den Schulen bediente, um aus den Mädchen und Jungen funktionierende Mitglieder der Gesellschaft zu machen, gab es sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede.
Für beide Geschlechter galt zum Beispiel der Grundsatz der ständigen Beschäftigung, ständige Präsenz der Religion und das Lernen am Vorbild der Erwachsenen. Ziel war ein Leben auf dem Weg zur Erlösung. Aufgrund der unterschiedlichen Funktionen, die Frauen und Männer in der Gesellschaft der Frühen Neuzeit ausfüllten, galten bestimmte Rollen als geschlechtsspezifisch. Dies wirkte sich aus auf die Vorstellung, wie der ideale Weg zur Erlösung für das jeweilige Geschlecht auszusehen hatte. Während er für die Mädchen über gewissenhafte Handarbeit und elementarer Bildung zur Frömmigkeit führte, erlangten die Jungen über das höhere Studium der Sprache zur Gottesfurcht. Festzuhalten bleibt, dass es sich bei dem untersuchten Milieu zum größten Teil um sozial höher gestellte Schichten handelt.
Neben institutionalisierter Bildung gab es andere Möglichkeiten der Wissensvermittlung und des Unterrichts. Je höher die soziale Position der Eltern des Kindes, desto wahrscheinlicher ist eine relative freie Auswahl seines Bildungswegs. Auch wenn Teile der Gesellschaft Schwierigkeiten mit Frauen hatten, die traditionell männlich behaftete Rollen einnahmen, erlaubte jenen ihre soziale Macht, diesen 'Rollenwechsel' auszuleben.
Für Mitglieder des 'schwachen Geschlechts' war es also unter gewissen Umständen möglich, eine gesellschaftliche Funktion einzunehmen, die ansonsten meist von Männern ausgeführt wurde. Ob dies umgekehrt auch der Fall war ist fraglich. Jungen wurden mit 7 Jahren von ihrer Mutter getrennt, um sie auf die Rolle des 'starken Geschlechts' vorzubereiten. Ob dies ihrem Willen entsprach oder nicht war sicherlich nicht relevant, und es wurde als normal verstanden, wenn das Kind anfangs Schwierigkeiten ohne die liebende Mutter haben würde. Ein Junge aber, der eine potentielle Veranlagung dafür hatte, eher eine traditionelle Frauenrolle ausführen zu könne bzw. wollen, konnte diese Neigung in keiner Weise zur Entwicklung bringen. Durch Erziehung zu mores durch das Studium der literae unter ständiger Überwachung und körperlichen Strafen, sollte bald ein, wahrscheinlich eher schlechter als rechter Mann aus ihm werden.
Unter ähnlichen Bedingungen, die Mädchen das Ablehnen der traditionellen Rolle gewährten, ist fraglich, ob einem Jungen, der diesen Wunsch gehegt hätte, die gleiche Möglichkeit offen gestanden hätte. Wenn Frauen eine Funktion des 'stärkeren Geschlechts' ausüben wollen, war man(n) vielleicht skeptisch, ob sie dazu überhaupt in der Lage waren. Hatten die Eltern die nötige Offenheit und Stärke in der Gesellschaft, konnte dieses Hindernis überwunden werden. Ein Wechsel in die andere Richtung jedoch, vom 'stärkeren' zum 'schwächeren Geschlecht' konnte von der Gesellschaft gesehen weder eine Verbesserung für das Individuum noch für die Gesellschaft selbst darstellen. Dass der Mann sich somit der Verantwortung entziehen würde, der er als Mitglied des 'starken Geschlechts' verpflichtet ist, hätte Argwohn erregen müssen. Ein Nachkomme Adams, der eigentlich freier von Sünde sein sollte als die Nachkommen Evas hätte wohl kaum den Wunsch zeigen können, das auszuüben wollen, was eigentlich jenen vorbehalten ist, ohne damit zu zeigen, dass sein Geist über ein gewöhnliches Maß hinaus schwächer ist als der der anderen Männer.
Ich denke, dass es möglich ist, dass die Verantwortung, die einem Vertreter des männlichen Geschlechts auferlegt wurde (und mit Abstrichen immer noch wird) zusammen mit der Aufwertung der männlichen Rolle, die Freiheit ähnlich beschränken kann wie der Entzug von Verantwortung vom weiblichen Geschlecht (was ebenso heute noch geschieht) und die Abwertung der weiblichen Rolle. Dabei scheint es schwierig Verantwortung zu fordern und zu erhalten, die für die Frau eigentlich nicht vorgesehen war. Schwieriger scheint es mir jedoch fast eine Verantwortung nicht annehmen zu wollen, die für den Mann vorgesehen war.
Somit scheint die Freiheit des Mannes in vielen Bereichen sicherlich größer als die der Frau, denkt man an die Vielzahl der möglichen Funktionen, die er im öffentlichen Leben unter gegebenen Umständen ausfüllen kann. Andererseits ist es möglich, dass seine Freiheit bzw. Macht auch in manchen Bereichen geringer ist als die der Frau, da ihm zum Beispiel der Rollenwechsel untersagt schien, der Frauen unter gegebenen Umständen möglich war.
Um die Frage im Zentrum von Schnells Arbeit von meiner Seite her aus zu beantworten: Geht man davon aus, dass es kein schwaches und kein starkes Geschlecht gibt, müsste man annehmen, dass es keines gibt, welches Macht über das andere hat. Beziehungsweise, dass beide Macht über das andere haben und zwar insgesamt, universell betrachtet, gleich viel; wenn sie gleich stark sind. Dies ist theoretisch auch dann der Fall, wenn es durch eine Unterteilung in öffentliche und private Bereiche, emotionale und rationale Ebenen, pragmatische und subtile Diskurse etc. nicht festzustellen ist.

Literaturverzeichnis:

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Conrad, Anne (1996)². "Weibliche Lehrorden und katholische höhere Mädchenschulen im 17. Jahrhundert." In: Elke Kleinau und Claudia Opitz. Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung. Band 1: Vom Mittelalter bis zur Aufklärung. Frankfurt am Main, New York: Campus, S. 252-262.
Fénelon, François (1687). Über Mädchenerziehung. Traite de l'éducation des filles. Hrsg.: Charlotte Richartz, (1967). Bochum: Kamp.
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